Die fernen Tage der Liebe
sich, ob sie wohl je in der Lage oder auch nur willens sein würde, so großzügig zu sein wie dieser Mann, der
sich bereitwillig zu seiner Frau setzte und mit ansah, wie sie nach fünfzig Jahren Ehe mit einem anderen Mann Händchen hielt
und nicht einmal mitbekam, dass ihr richtiger Mann da war, vielleicht nicht einmal mehr wusste, dass er je ihr Mann gewesen
war. Wer konnte so etwas aushalten?
»Ich werde nie heiraten«, murmelte April. Als ihr klar wurde, wie das sich für Mitchell möglicherweise anhören musste, wurde
sie rot.
Mitchell kicherte. »Ich glaube, als ich so alt war wie Sie, habe ich das auch noch gedacht«, sagte er. »Und dann bin ich Clare
begegnet.«
April nahm es gefasst auf.
»Sie heißt wirklich Clare? Und ich dachte, mein Großvater sei nur durcheinander. Ich meine, manchmal nennt er ja sogar mich
Clare.«
Mitchell nickte lächelnd. »Ich habe Clare zu so vielen Gemeinschaftsaktivitäten gebracht wie nur möglich. Ich hatte immer
die Hoffnung, dass sie durch die Gesellschaft mit anderen Menschen vielleicht ein wenig aus ihrer … Ferne … zurückkehren würde.
Also bin ich mit ihr zu diesem Kreuzworträtseltreffen gegangen, das sie hier jede Woche abhalten. Da hörte Ihr Großvater,
wie ich ihren Namen sagte. Danach war er nicht mehr zu beruhigen. Er musste unbedingt bei ihr sein.« Mitchell wurde einen
Momentlang still. »Ich wusste ja, dass er verwirrt war, aber ich muss zugeben, trotzdem hätte ich ihm am liebsten einen Nasenstüber
verpasst. Aber dann bemerkte ich, wie Clare hochsah. Sie lächelte Ihren Großvater an, genauso wie jetzt gerade.«
April blickte hinüber und sah, dass Mitchell recht hatte. Clare lächelte wie ein junges Mädchen bei seinem ersten Rendezvous.
Auch ihr Großvater lächelte. Inzwischen flüsterte er nicht mehr, doch April hörte Mitchell so aufmerksam zu, dass sie keine
Ahnung hatte, welche Geschichte ihr Großvater nun schon wieder zum Besten gab. Mitchel zog sein perfekt eingestecktes Tüchlein
aus der Brusttasche seines Jacketts und tupfte sich die Stirn ab. Dann steckte er das Tuch sorgsam wieder zurück und legte
auf dem Tisch seine großen Hände zusammen.
»Ich bin ihm dankbar«, sagte er einfach.
April betrachtete seine Hände. Schon wieder so eine Situation, wo sie zwar genau wusste, was sie machen musste, aber nicht,
wie sie das bewerkstelligen sollte, ohne sich wie eine komplette Schwachsinnige vorzukommen. Sie wusste, sie hätte jetzt den
Arm ausstrecken und ihre Hand auf seine legen sollen, sie vielleicht sogar drücken und dabei etwas Tiefsinniges sagen sollen.
Wenn ihre Mutter – wo blieb sie überhaupt? –, wenn die jetzt hier wäre, würde sie genau das machen. Mitchells Hände, die er
vor sich gefaltet hatte wie ein Schuljunge, schienen sie regelrecht zu einer solchen Geste einzuladen, obwohl die knotigen
Knöchel, die gekrümmten Finger und die auf der dunklen Haut hervortretenden Venen sie gemahnten, dass die Geschichte so einfach
nun auch wieder nicht war.
Beide wandten sie sich um, als sie hinter sich die Tür aufgehen hörten. Nick, Mike, Aprils Mutter und Hank Johnson. Hank trug
den Kuchen, ihre Mutter und ihre Onkel hatten jeder ein in buntes Geschenkpapier eingeschlagenes Päckchen in der Hand.
»Was in Teufels Namen …?«, schrie ihre Mutter. Wie einen Laserstrahl sah April eine schnurgerade Linie, die von den Pupillen
ihrer Mutter bis zur Hand ihres Großvaters reichte. Und zu der von Clare.
April sah Mitchell an. Mitchell schenkte ihr ein knappes, wissendes Lächeln.
»Wir sind ihm auch dankbar«, sagte April.
Informationen zum Buch
Kleine Fluchten, große Gefühle.
Was bleibt einem Witwer, wenn die Kinder heillos zerstritten sind und Alzheimer die Erinnerungen zersetzt? Bill will es herausfinden
und begibt sich mit seiner Enkelin auf eine Reise quer durch Amerika.
Nach dem Tod seiner Frau Claire sitzt Bill Warrington allein in seinem Haus. Mit seinen drei Kindern ist er zerstritten. Mike,
Nick und Marcy sind mehr oder minder gescheiterte Existenzen. Während Nick nicht über den Tod seiner Frau hinwegkommt, erleidet
Mike beruflich Schiffbruch. Marcy versucht, eine neue Beziehung einzugehen, doch dem steht ihre aufsässige Tochter April im
Weg. Um seine Kinder zu einem großen Familientreffen zu bewegen, beschließt Bill, mit April nach San Francisco zu fahren –
mit ihr am Steuer, denn er leidet immer stärker an Alzheimer. Ein großes, wunderbares
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