Die fetten Jahre
nicht gehe, komme ich mitten in den Berufsverkehr.«
»Kommen Sie doch mal wieder vorbei, meine Guizhou-Ente wartet auf Sie!«
»Ganz bestimmt. Bleiben Sie gesund, Madame Song.« Sie reichte mir zum Abschied die Hand. Ich ergriff sie und nahm schnell den Zettel entgegen, den sie darin verborgen hielt.
Das Lebewohl fiel uns beiden schwerer als gedacht.
Ich war schon beinahe zur Tür hinaus, da hielt mich Wei Guo zurück: »Herr Chen! Haben Sie zufällig in letzter Zeit meine Mutter gesehen?« Seine Stimme verriet keinerlei Emotion.
»Nein«, log ich intuitiv.
Höflich wünschte er mir einen guten Tag.
Ich nickte nur. Ich konnte es mir nicht verkneifen, verstohlen einen letzten Blick auf seine schneeweißen Turnschuhe zu werfen.
Chens Schicksalsjahr
Es war das Jahr meines Tierkreiszeichens, und also war mit merkwürdigen Vorkommnissen zu rechnen. So besagte es zumindest ein besonders hartnäckiger chinesischer Aberglaube. Die nicht erklärbare Emotionalität, die mich in jüngster Zeit so oft überkam, das Auftauchen Xiaoxis und Fang Caodis so kurz hintereinander – all das gab mir das vage Gefühl, dass sich irgendetwas zusammenbraute.
Mir war schon lange niemand mehr begegnet, der sich so wenig von der allgemeinen Hochstimmung anstecken ließ wie Xiaoxi und Fang. Natürlich gab es in einem so großen Land wie China die unterschiedlichsten Typen, und seit meinem ersten Aufenthalt Mitte der achtziger Jahre bis in die jüngste Vergangenheit hinein hatte ich eine ganze Reihe solcher Anachronisten getroffen, in den letzten Jahren waren es jedoch immer weniger geworden. Insbesondere seit dem Anbruch des Goldenen Zeitalters in China, parallel zur weltweiten wirtschaftlichen Eiszeit, fand sich in meinem sozialen Umfeld niemand mehr, der sich dem Zeitgeist derart widersetzte.
In meinem Umfeld gab es drei Arten von Menschen: Zur ersten Sorte gehörten meine Putzfrauen. Ich beschäftigte ausschließlich Rentnerinnen mit Wohnsitz und Familie hier in Peking. Da ich selten zu Hause war, fühlte ich mich so sicherer. Meine derzeitige Putzfrau hatte eine Akademikerin zur Tochter, die in einem ausländischen Unternehmen arbeitete; sie putzte also nur, um in Bewegung zu bleiben und nicht untätig herumzusitzen. Während der Arbeit breitete sie meist allerlei Belanglosigkeiten aus dem Leben ihrer Tochter aus: wie viel Geld diese für ihre Dauerwelle ausgegeben hatte oder dass ihr Freund vielleicht bald nach Shanghai ziehen musste. Außerdem erzählte sie mir Neuigkeiten über Taiwan, die sie im Satellitenfernsehen aus Fujian aufschnappte. Währenddessen saß ich zumeist am Computer und hörte ihr nur mit halbem Ohr zu. An manchen Tagen ging sie mir auf die Nerven, dann wieder war ich dankbar für die Einblicke in die Lebenswelt der Durchschnittsbevölkerung.
Die zweite Kategorie bestand aus Journalisten der Mainstream-Medien, meist jung, voller Elan und mittendrin im Geschehen. Sie wussten Bescheid über alle wichtigen Themen: wer gerade angesagt war und wer nicht, welche Clubs in waren und welche out, welches die Tops und welches die Flops unter den Neujahrskomödien waren und wohin man dieses Jahr verreiste, wenn man hip sein wollte. Egal worüber sie gerade schrieben – immer dann, wenn eine Meinung von außen gefragt war, standen die Chancen gut, dass ihnen dieser taiwanische Bestsellerautor einfiel, der praktischerweise hier in Peking residierte. Bei der Unmenge von Medien in der Hauptstadt kamen jeden Monat ein paar Journalisten mit Interviewanfragen auf mich zu. Ein kleiner Plausch mit ihnen war mir immer willkommen, denn so blieb ich auf dem Laufenden über die aktuellen Trends.
Die dritte Gruppe bildeten Verlagslektoren. Ein paar meiner Bücher waren auf dem Festland erschienen und verkauften sich recht gut, deshalb bekam ich des Öfteren Besuch von Lektoren, die weitere Bücher mit mir machen wollten. Das Problem war nur, dass mir das Schreiben in den letzten Jahren nicht so richtig gelingen wollte, sodass ich lediglich ein paar meiner älteren, bisher nur in Taiwan erschienenen Werke wiederverwertete. Zwei meiner Bücher standen – in neuer Ausstattung – tatsächlich gerade kurz vor einer Neuauflage. Manchmal stellte mich einer der Lektoren seinem Verleger vor. Oft genug waren das alte Bekannte, die eine steile Karriere hingelegt hatten. Früher nur ein unbedeutendes Rädchen im Getriebe, waren sie plötzlich Geschäftsführer irgendeiner Verlagsgruppe geworden. Meist interessierten sie sich nicht für
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