Die Feuer von Murano: Ein Venedig-Roman (German Edition)
flüsternd, »hat die Äbtissin uns zum Rosenkranzgebet in die Kirche geschickt.« Sie bekreuzigte sich rasch und fügte, an den Werkmeister gewandt, hinzu: »Morgen ist Kreuzerhöhung. Dass wir gerettet sind, verdanken wir ihr und der allerheiligsten Jungfrau und Gottesmutter.«
Der Werkmeister schwieg einige Augenblicke lang respektvoll, dann beugte er sich zur Äbtissin vor, die nicht mehr zu atmen schien. »Ehrwürdige Mutter«, redete er sie leise an. Sie begann wieder zu atmen, kaum wahrnehmbar, und bewegte leicht den Kopf.
»Nach der ersten Explosion ist unsere Schwester aus der Kirche ins Refektorium zurückgekehrt, um die Köchin zu uns zu holen«, erzählte die Nonne weiter. »Dann gab es wieder einen Knall, und die Welt ist eingestürzt …«
»Mutter«, wiederholte Bepo Rosso lauter, der die Nonne gar nicht zu hören schien, so vertieft war er in sein Bemühen, die Äbtissin wieder zu Bewusstsein zu bringen.
»Wir haben sie im großen Kreuzgang gefunden«, fuhr die Nonne fort, »eine Säule hatte ihr die Beine zerschmettert. Wir konnten sie befreien und haben sie hierhergebracht, in Sicherheit.« Sie schüttelte traurig den Kopf.
In diesem Moment fand die Äbtissin die Kraft, die Augen aufzuschlagen. Es war, als öffneten sich zwei Spalten des Himmels. Andrea wurde von diesen Augen gebannt wie von einer uralten Erinnerung, die er nicht zu fassen noch zu deuten wusste. Ein Schrein hatte sich geöffnet. Denn in diesen Augen gab es, wie in kostbaren Steinen, keine Spur des Alters. Auch keine Jugend. In diesen Augen floss keine Zeit, nur Licht. Sie hatten die Farben des Wassers, in ihnen verschmolz das Blau des tiefen Meeres mit dem hellen, fast silbrigen Azur einer Quelle. Solche Reflexe hatte Andrea in einigen sehr wertvollen Edelsteinengesehen, Aquamarine nannten sie die deutschen Händler, die sie zum letzten Himmelfahrtsfest aus Flandern mitgebracht hatten.
Die Augen bewegten sich: vom Werkmeister hinüber zu der alten Nonne, die sich, von Trauer überwältigt, eine Hand vor den Mund legte, um ihr Schluchzen zu unterdrücken. Die Äbtissin lächelte einen Augenblick lang. Ihre Augen kamen nicht zur Ruhe, jetzt fanden sie Andrea. Sie scheint mich länger anzusehen, dachte er. Aber die müden Lider schlossen sich wieder. Ein schmerzhafter Hustenanfall, ein Röcheln und Blut, das über die Lippen das Kinn hinabfloss und das die Novizin rasch mit einem Tuch abtupfte.
Erneut blickte die Äbtissin Andrea an, und je länger sie ihn fixierte, desto mehr schienen ihre Augen ihn festzuhalten und zu bannen.
»Wir müssen sie zum Ospedaletto bringen«, schaltete sich Bepo Rosso ein.
»Ich suche eine Trage.« Andrea wollte sich erheben, doch da hob die Äbtissin mit großer Anstrengung den Arm und bewegte die Finger, als wollte sie ihn zurückrufen. Eine Geste, die bei allen Staunen hervorrief, außer bei Andrea.
»Mutter Oberin«, sagte er flüsternd. Sie streckte die zitternden Finger nach ihm aus.
»Nehmt ihre Hand«, riet Bepo Rosso mit einem unvermutet zarten Unterton in seiner rauen Stimme.
Andrea zögerte, doch er tat, was ihm der Werkmeister geraten hatte. Er streifte die Hand und spürte sehr deutlich die Kälte des nahenden Todes, doch auch die Anstrengung, die die Frau aufwandte, um ihn zu sich heranzuziehen. Andrea kniete dicht vor ihr nieder.
»Ehrwürdige Mutter«, sagte er und bemühte sich, sie anzulächeln. Die Augen und der ganze obere Teil ihres Gesichts begannen zu leuchten. »Seid unbesorgt«, sagte Andrea, um ihr Hoffnung zu geben. »Wir bringen Euch weg von hier.«
Bei diesen Worten fand der Werkmeister zu seinem Plan zurück. »Loredan, Ihr bleibt bei der ehrwürdigen Mutter, ich gehe eine Trage suchen.« Darauf entfernte er sich.
Ein leises Raunen weckte Andreas Aufmerksamkeit. Die Äbtissin bewegte die Lippen, sie versuchte zu sprechen. Er rückte näher an sie heran. Doch nur ein Hauch kam von diesen Lippen, von krampfartigen Atemzügen unterbrochen, in denen sich kein Wort mitteilte. Plötzlich war ihm, als hätte die Äbtissin seinen Namen geflüstert. Vor Überraschung verschlug es ihm den Atem. Also hatte sie ihn erkannt, und er durfte sie nicht enttäuschen. »Ich bin hier«, sagte er lächelnd.
Mit großer Mühe hob die Äbtissin die andere Hand und ließ ihre Fingerspitzen über seine Wange gleiten. Verwirrt betrachtete er sie. Er verstand nicht und fühlte sich wie ein Gast, der zufällig zu dem äußerst bedeutsamen, heiligen Moment des Sterbens zugelassen wird.
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