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Die Feuer von Murano: Ein Venedig-Roman (German Edition)

Die Feuer von Murano: Ein Venedig-Roman (German Edition)

Titel: Die Feuer von Murano: Ein Venedig-Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Giuseppe Furno
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Gerne wäre er fortgegangen. Doch sie sprach wieder zu ihm, diesmal verständlich, jedes Wort betonend, als wäre es das letzte.
    »Andrea«, hauchte sie, »…   suche furchtlos   … in den Edelsteinen des Himmels   … und in der Seele wirst du   … die Wahrheit finden.«
    Andrea sah, wie die Hand der Äbtissin auf etwas zeigte. Er drehte sich um: Zehn Schritte entfernt stand der gläserne Schrein zwischen den beiden Marmorsäulen. Da fiel die Hand wieder herab. Die Augen bewegten sich nicht mehr und wurden trübe.
    Die Novizin löste sich erschrocken von der Äbtissin. Die alte Nonne bekreuzigte sich abermals und begann, das Requiem zu murmeln. Sie tat es mit der gemessenen Resignation, mit der ein Arzt vor einem soeben verstorbenen Patienten die Instrumente niederlegt.
    Andrea ließ die Hand der Äbtissin los. Auch er schlug ein Kreuzzeichen, nicht aus Überzeugung, sondern aus Respekt vor der Toten, den beiden Ordensschwestern und der heiligen Stätte. Er richtete sich auf, tat einen Schritt zurück und ging leichtgebückt zwischen den beiden Säulenreihen auf den Ausgang zu. Als er an dem Schrein vorbeikam, ließen ihn die geflüsterten Worte der Äbtissin, ihr beharrliches Weisen auf den Schrein innehalten und genauer hinschauen. Was hatte sie ihm sagen wollen? Andrea fuhr mit den Fingerspitzen über eine der Glasscheiben. Das Glas war glatt, kalt und vollkommen durchsichtig. Er erkannte, dass es cristalìn war, ein Glas von höchster Qualität, sehr widerstandsfähig und teuer, das von den besten Brennereien in Murano hergestellt wurde. Es war mit unzähligen Pünktchen aus weißem Emaille verziert, die Kringel, Rauten und Spiralen formten. Einige Kratzer an der Innenseite zeigten, wie dünn es war. Diese Entdeckung brachte ihn dazu, sich das Metallgeflecht näher anzuschauen, das den Schrein umgab. Es war nicht nur ein Schutz, wie er gedacht hatte, sondern bildete den tragenden Rahmen, in den die Scheiben aus Cristalìn eingefügt waren. Eine überaus raffinierte Arbeit.
    Plötzlich hallte ein naher Schuss in der Krypta wider und lenkte Andreas Aufmerksamkeit auf das, was draußen vor sich ging. Beim zweiten Schuss, an dem er unzweifelhaft eine Arkebuse erkannte, ergriff er das Hanfseil und stürzte nach oben.

15
    Zuerst sah Andrea zwei Gestalten, zehn Schritt entfernt, dann roch er den süßlichen Geruch des Schwarzpulvers. Die Nonnen waren verschwunden, auch die Flammensäulen, die zu einem rötlichen Widerschein mit viel Rauch und wenig Glut zusammengefallen waren. Im Osten bereitete sich der Himmel darauf vor, den Tag zu empfangen, ein milchiges Licht umgab den unregelmäßigen Umriss der Apsis, während die Himmelskuppel im Norden noch voller Sterne war.
    Andrea ging auf die beiden Gestalten zu. Er erkannte die dunkle Mütze mit der Schleife, dann die Weste und die Kniebundhosen zweier Fanti da Mar aus dem Infanteriekorps der Republik Venedig. Sie luden ihre Arkebusen. Der Erste sah Andrea und legte die Waffe auf ihn an. »Halt! Wer seid Ihr?«, schrie er und tat, als sei er zum Schießen bereit.
    Unbeeindruckt, denn er wusste, dass noch kein Blei im Lauf war, kam Andrea näher. »Runter mit dem Gewehr, Fante!«, befahl er. »Ich bin Andrea Loredan, dein capitano . Ich bin hier, um Hilfe zu leisten.«
    »Loredan aus dem Dogengeschlecht?«, fragte der andere ein wenig verängstigt.
    »Genau der«, antwortete Andrea knapp.
    Die beiden Soldaten nahmen Haltung an.
    »Fante Molin di Este Zuàne, dritte Kompanie, erstes Regiment. Zu Befehl, Capitano!«
    »Fante Albanexe Martino, dritte Kompanie, erstes Regiment Zara. Zu Befehl, Capitano!«
    Andrea stand nun direkt vor ihnen. Sie waren noch sehr jung.
    »Auf wen habt ihr geschossen?«
    »Auf Diebe, Kirchenräuber. Sie sind von dort hinten gekommen«, murmelte der zweite Fante, indem er auf die Wand der Apsis zeigte und den Kopf ein wenig zwischen den Schultern versteckte.
    »Wohin sind sie gelaufen?«, fragte Andrea. Der Kommandoton, den er selten gebrauchte, war ihm nicht unangenehm.
    Die beiden Fanti schwiegen, dann zeigte einer auf den mit Trümmern und geborstenen, umgeknickten Bäumen übersäten Garten der Celestia, grau im anbrechenden Morgen und von Rauchschwaden eingehüllt. Tatsächlich, dort hinten, fünfzig oder sechzig Schritt entfernt, stolperten zwei Gestalten durch die Spuren der Verwüstung, flüchteten Richtung Lagune, während eine dritte versuchte, sie einzuholen, doch sie schwankte, als wäre sie betrunken. Plötzlich stürzte sie,

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