Die Feuer von Murano: Ein Venedig-Roman (German Edition)
inneren Beckenankernder Galeeren erfasst. In der Richtung, in die er blickte, hatte die Stadt ihre Geometrie und Architektur völlig verloren, sie erschien wie ein sturmgepeitschtes Meer voller Wellenkämme und planlos entstandener Höhlen und Wasserschluchten. Ein leichter Windhauch trug den süßen, stechenden Geruch von Schießpulver heran, wie nach einem Kanonenfeuer. Andrea wurde bewusst, dass in diesem schwarzen Tal bis vor wenigen Augenblicken die Häuser im Besitz von Bernardo Sagredo gestanden hatten, wo viele Arbeiter des Arsenale wohnten, Handwerker und Bürger, außerdem ein paar Patrizier aus altem Geschlecht. Von all dem existierte nichts mehr. Jenseits des Arsenale, gegenüber den Trümmern seiner einstigen Umfriedungsmauer, waren die Kirche und das Kloster Santa Maria della Celestia der Zisterzienserinnen verschwunden, außerdem eine Handvoll Häuser, die sie wie eine Kette umringt hatten.
In diesem Moment fiel ihm der Brief ein.
»Aus der Celestia wurde ein Brief für Euch gebracht, Avvocato, er liegt oben in Eurem Zimmer am gewohnten Platz«, hatte der paròn L orenzo gesagt. Andrea, der noch unter dem Eindruck der schmerzhaften Trennung von Taddea stand, hatte ihm gedankt und den Brief vergessen.
Mit einem Ruck drehte er sich zum Zimmer um, einen Schritt entfernt stand das Schreibpult, der noch unzerstörte Teller aus blauem Glas, in den die Wirtsleute die Sendschreiben an ihn legten, war leer. Sein Blick ging auf das Durcheinander aus Scherben, Kleidern und Holzstücken auf dem Fußboden, der Brief war zwischen die Tischbeine geflogen. Er hob ihn auf. Das blaue Siegel mit dem aufgeprägten Kreuz war noch intakt. Ein Ritzen mit dem Fingernagel, und der Siegellack sprang splitternd auf. Das Blatt aus festem venezianischem Papier war sorgfältig gefaltet. Andrea öffnete es und ging zurück ans Fenster in das helle Licht des Feuers. In der Mitte des Blattes standen, mit purpurroter Tinte und eleganter, leicht nach links geneigter Handschrift geschrieben, nur zwei Zeilen und eine Unterschrift.Andrea überflog sie: Die Äbtissin der Celestia, Lucia Vivarini, bat ihn, wegen dringender und vertraulicher Nachrichten in das Kloster zu kommen.
Als wollte er sichergehen, las Andrea die Zeilen noch einmal. Dann schaute er wieder nach draußen, wo alle Sicherheit verloren war. Von diesem Fenster des Dachbodens, dem höchsten Punkt der Locanda direkt unter dem Altan, konnte er die Silhouetten der ersten Helfer erkennen, die begannen, sich an den Trümmern abzumühen, während andere an Bord der brennenden Schiffe kletterten, um die Flammen zu löschen und von den noch unversehrten Schiffen fernzuhalten. Je mehr Helfer herbeiströmten, desto mehr verbanden sich die vereinzelten Schreie zu einem entfernten, diffusen Hintergrundlärm, ähnlich dem Beifall der Menge während des Himmelfahrtsfestes, und dazu kam das Läuten hunderter Glocken, als wollten sie das Unglück segnen.
»Ser Loredan, seid Ihr wohlauf?« Andrea blickte hinunter auf die Straße: Lorenzo, ein beleibter Vierziger, dessen Kleider stets nach Gewürzen rochen, schwenkte eine Laterne. Er trug zwei Säcke auf dem Rücken und hielt seine Tochter Graziosa an der Hand. »Kommt sofort herunter!«, rief er besorgt. »Das Arsenale brennt! Es scheint, dass eine Pulverkammer explodiert ist. Wenn die anderen auch hochgehen, stürzt ganz Castello ein! Ganz Venedig!«
Der Alarm schien Andrea so gleichgültig zu lassen, dass der Wirt sich bekreuzigte und den Warnruf mit deutlicheren Worten wiederholte: »Um Gottes willen, ser Loredan! Wenn Ihr hierbleibt, gibt es keine Rettung für Euch!«
In diesem Moment kam eine Frau im Nachthemd aus der Locanda. Sie hielt ein Kind von etwa drei Jahren im Arm, das in einen Schal gehüllt war, und an der Hand einen Jungen kurz vor dem Jugendalter in einer Tunika, die ihm bis zu den Füßen reichte. Es war Maria, die junge Frau des Wirts, mit den beiden anderen Kindern, Rocco und Bernardino. Humpelnd, denn siehatte ein Hüftleiden, ging sie zu ihrem Mann und blickte ebenfalls hinauf.
In diesem Moment zeichneten mehrere Explosionen Blitze an den Himmel. Aus dem Heck eines brennenden Schiffes flogen lodernde Pfeile, die an das Feuerwerk einer Karnevalsapparatur erinnerten. Es war das Waffenlager im Achterdeck, das explodierte. Ein nächster, stärkerer Knall, und das ganze Achterkastell löste sich vom Heck und stürzte ins Wasser.
Die Frau packte Lorenzo am Arm. »Gehen wir!«, rief sie laut, damit auch Andrea sie
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