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Die Feuer von Murano: Ein Venedig-Roman (German Edition)

Die Feuer von Murano: Ein Venedig-Roman (German Edition)

Titel: Die Feuer von Murano: Ein Venedig-Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Giuseppe Furno
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hörte. »Ser Loredan ist erwachsen und kann für sich selbst entscheiden.« Der Griff um den Arm wurde zu einem resoluten Stoß, der den Wirt und seine Kinder auf der Calle in Bewegung setzte.
    Dieser Aufbruch war eine Befreiung, dasselbe Gefühl verspürte Andrea jedes Mal, wenn er ein Fest verließ, das allzu höfliche und aufdringliche Hausherren gaben. Er spähte wieder zum Arsenale hin: Die Flammen breiteten sich aus, wurden höher und heller. Sicher hatten sie die Werften für die Galeassen und das nahe Lager des Tauwerks erreicht, denn das Gebäude glühte, und der Rauch war weiß wie von brennenden Stoppelfeldern im August. Die ersten Vorboten dieser Rauchwolke trugen den unverwechselbaren Geruch verbrannten Hanfs heran.
    Er dachte an Taddea, deren Familie im sestiere San Marco ein Haus besaß, am Campo San Paternian, nicht weit vom Gefahrenherd entfernt. Sicher beobachtete sie gerade den Brand. Vielleicht sorgt sie sich um mich, dachte Andrea. Denn aus dieser Entfernung ließen sich die Grenzen der Zerstörung nicht klar genug erkennen, um Schäden an der Locanda della Torre auszuschließen. Taddea weinend im Arm ihres Vaters, den sie anflehte, sie gehen zu lassen. Andrea wurde bewusst, dass diese Katastrophe und die Gefühle, die sie auslöste, eine unwiederbringliche Gelegenheit boten, sie zu bitten, zu ihm zurückzukehren. Aber wollte er das wirklich?
    Sein Blick wanderte zu der dreibogigen Brücke über demRio San Lorenzo, wenige Schritte von der Locanda entfernt. Auf dem höchsten Punkt der Brücke gingen, beleuchtet von einigen Ölfackeln, zwei Männer mit einer Trage. Hinter ihnen zwei weitere. Es waren die ersten Verletzten aus der Umgebung der Explosion. Am Ufer der Locanda angekommen, zögerten die Träger. Andrea konnte ihren aufgeregten Wortwechsel hören.
    »Wir bringen sie zum Ospedaletto!«
    »Nein, lieber in die Kirche Santa Maria Formosa«, entgegnete ein anderer. »Da ist es sicherer.«
    »Ins Ospedaletto, sage ich dir!«, entschied der Erste und ging am Ufer San Lorenzo auf die Locanda zu. Als er näher kam, konnte Andrea die Trage und was sie transportierte, besser erkennen. Es war ein Türflügel, darauf lag ein kleines Mädchen mit blutigen Kleidern, der Kopf war unnatürlich verdreht, während der schlaffe Körper bei jeder Bewegung schaukelte, ein magerer Arm und die schmale Hand hingen herab.
    Andrea hatte das deutliche Gefühl, dass sie tot war. Der nächste Verletzte, den er sah, verdrängte diesen Gedanken: es war ein Junge, der weinte und den Mund aufriss, als bekäme er keine Luft. Man hatte ihn auf eine Leiter gelegt, der Kittel, mit dem er zugedeckt war, drohte zur Seite zu rutschen und offenbarte, dass er nackt war. Eine Frau, wahrscheinlich seine Mutter, ging schluchzend an seiner Seite, manchmal zupfte sie den Kittel zurecht.
    Das Grüppchen verschwand in der Calle Cappello. Doch schon tauchten weitere Verletzte auf. Andrea wartete nicht länger, eilig kleidete er sich an: Kniebundhosen aus Tuch und eine leichte Bluse, an den Füßen die Stiefel, die er zum Reiten benutzte. Zum Schluss warf er sich einen Ledermantel um. Dann faltete er den Brief zusammen und steckte ihn in die Tasche. Er nahm die Öllampe, doch seinen Degen ließ er zurück. Einen Augenblick später lief er, zwei Stufen auf einmal nehmend, die Treppe hinunter und stürzte aus der Tür der Locanda. Ein letzter Zweifel ließ ihn innehalten. Jetzt musste er sich entscheiden: nach rechts, Richtung Sestiere San Marco zu Taddeas Haus,oder nach links, der Ungewissheit, vielleicht dem Tod entgegen, über die San-Lorenzo-Brücke zum Arsenale, der Celestia und dem Widerschein der Hölle. Diese Richtung nahm er.

5
    Dichter Schneefall hatte eingesetzt. Wie im Winter, wenn der Schirokko sich mit den kalten Luftströmen verbindet, die von den sibirischen Steppen herunterkommen. Asche, weich und leicht wie Schnee. Grauer Schnee, der alles grau färbte und gleichmachte, was zum Himmel blickte: Altane, Dächer, Kamine und Mauervorsprünge, istrischen Kalkstein und Simse, die Oberfläche der Kanäle und die Decks der Boote, die Gassen und die Plätze, die großen Blätter der Pflanzen in den Gärten und die Menschen. Die streunenden Hunde schüttelten sich die Asche aus dem Fell, als kämen sie aus dem Wasser, und versuchten, in die Flocken zu beißen, während sie sich auf die Hinterbeine stellten und mit den Lefzen schnalzten.
    Andrea sah eine Menge Fußspuren in der Asche, viele nackt, manche beschuht. Und er sah zwei

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