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Die Feuer von Troia

Die Feuer von Troia

Titel: Die Feuer von Troia Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marion Zimmer-Bradley
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entsprechend behandelt. Man brachte Königin Imandra nicht mehr Ehrerbietung entgegen, und Arikia liebte Kassandra bald wie eine Tochter.
    In vieler Hinsicht glich die Zeit im Tempel der Schlangenmutter den ersten Jahren im Tempel des Sonnengottes. Es gab jedoch einen großen Unterschied. Im Tempel der Schlangenmutter lebten nur Priesterinnen, und Kassandra blieben Schwierigkeiten erspart, wie Khryse sie heraufbeschworen hatte. Die einzigen Männer waren Sklaven, und keiner hätte es gewagt, einer Priesterin zu nahe zu treten.
    Kassandra lernte alles, was die Priesterinnen über das Leben der Schlangen wußten. Bald konnte sie die giftigen von den ungiftigen unterscheiden, bestimmte harmlose Arten zähmen, die gewissen Giftschlangen ähnlich sahen, so daß ein Zuschauer glauben mochte, sie fürchte den Tod nicht. Kassandra hatte auch keine Angst vor den großen Schlangen und gehörte bald zu denjenigen, die sie vorzugsweise trugen. Und nicht selten, wenn die riesige Herrscherin der Schlangen in Prozessionen dem Volk gezeigt wurde, übertrug man Kassandra die Aufgabe, sie zu tragen.
    Sie eignete sich alles Wissen über Schlangen an, zum Beispiel wie man sie findet und fängt, oder wie man sie füttert und halt, badet und umsorgt, wenn sie sich häuten. Sie trug sogar einmal ein Schlangenei langer als einen Mond zwischen den Brüsten, bis die kleine Schlange schlüpfte. Dann wärmte sie die Schlange mit ihrem Körper. Daraufhin erhielt sie den Ehrentitel unter den Priesterinnen: Schlangenmutter.
    Kassandra dachte selten an Troia. Hin und wieder erreichten Nachrichten über den Fortgang des Krieges Kolchis, die vielleicht auf dem langen Weg entstellt worden waren. Idomeneo von Kreta und die minoischen Könige verbündeten sich mit Troia. Aber die meisten vom Festland schlugen sich auf die Seite der Achaier. Die Inselbewohner hielten aus alter Treue zu dem einst mächtigen Atlantis zu Priamos und den Göttinnen von Troia und Kolchis.
    Bei Vollmond entzündete Kassandra manchmal ein magisches Feuer und blickte bei seinem Licht in die mit klarem Wasser gefüllte Schale. Auf diese Weise erfuhr sie, daß Andromache einen zweiten Sohn geboren hatte, der aber starb, noch ehe die Nabelschnur verheilt war. Kassandra wünschte, sie hätte in dieser Nacht in Troia sein können, um ihre Freundin zu trösten.
    Sie wußte auch, daß Helena ihrem Bruder Paris Zwillingssöhne gebar; Kassandra überraschte das nicht. Schließlich war Paris ein Zwilling, und auch Helena hatte eine Zwillingsschwester. Kassandra dachte daran, daß sie vielleicht auch Zwillinge bekommen würde, vielleicht sogar Zwillingstöchter, falls sie einmal Kinder haben würde. Helenas Kinder waren gesund und kräftig, obwohl sie nicht die Schönheit ihrer Mutter und ihres Vaters hatten. Aber sie wuchsen so schnell, daß sie bereits nach einem halben Jahr anfingen zu laufen.
    Noch ehe die Zwillingssöhne entwöhnt waren, stürzte Priamos bei einem Scharmützel am Strand. Er war bettlägerig und erlitt in dieser Zeit einen Schlag: Die rechte Gesichtshälfte blieb schlaff und unbeweglich, und er zog von da an den rechten Fuß nach. Er ernannte Hektor offiziell zum Befehlshaber seiner Truppen - was niemanden überraschte. Die Soldaten hielten Priamos die Treue und jubelten ihm bei den seltenen Gelegenheiten zu, wenn er vor ihnen erschien. Aber sie verehrten Hektor, als sei er Ares persönlich.
    Die Zeit in Kolchis verging ohne Zwischenfälle. Kassandra war immer ein gerngesehener Gast im Palast, und Imandra ließ sie oft rufen. Manchmal suchte sie nur ihre Gesellschaft, und gelegentlich bat sie Kassandra, in die Wasserschale zu blicken, um ihr zu berichten, wie es mit dem Krieg stand, oder um nach den Amazonen Ausschau zu halten, denn sie wollte sich vergewissern, daß es Penthesilea und ihren Frauen nicht allzu schlechtging. Kassandras Tage vergingen mit Lernen und der Erfüllung ihrer Pflichten, und eines Tages stellte sie überrascht fest, daß sie Troia schon vor mehr als einem Jahr verlassen hatte. Die Frauen betrachteten jede Geburt als ein Fest, und im Palast wurden immer Kinder geboren. Die geweihten Priesterinnen der Schlangenmutter heirateten jedoch nicht; die meisten hatten ein Keuschheitsgelübde abgelegt, und deshalb gab es im Tempel keine Geburten. Kassandra überlegte, wann Königin Imandra wohl ihr Kind bekommen werde.
    Bald darauf erfuhr sie in der Stadt, daß die Königin durch die Straßen gehen werde, um ihr Volk im Namen der Erdmutter zu segnen.

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