Die Feuer von Troia
Straßenrand hoben die Hände, flehten um Fruchtbarkeit und um das Glück, die schwangere Königin berühren zu dürfen, die die Göttin verkörperte. Kassandra hob ihre Arme mit den Schlangen hoch und hörte die Rufe nach Imandra und der Erdmutter, nach Arikia und der Schlangenmutter, und dann rief jemand irgendwo in der Menge: »Seht doch, die troianische Priesterin, die Geliebte Apollons!«
Plötzlich war sie hellwach. Entsprach das der Wahrheit, oder hatte Apollon sie vergessen? Vielleicht ist es Zeit, dachte sie, daß ich nach Troia, zu meinem Volk und zu meinen Göttern, zurückkehre . Die Frauen, die hier in Kolchis der Göttin dienten, waren sehr viel freier. Aber was nutzte Kassandra die Freiheit, wenn sie als Preis dafür immer unter Fremden leben mußte? Dieser Gedanke versetzte ihr einen Stich ins Herz. Sie wurde hier geliebt und hatte viele Freundinnen. Konnte sie es ertragen, sie alle zu verlassen und in eine Stadt zurückzukehren, in der man von den Frauen erwartete, daß sie sich ihren Ehemännern und Brüdern unterwarfen?
Die Sonne schien heiß. Kassandra zog den Schleier über den Kopf, tauchte ein Tuch in eine Schale Wasser und befeuchtete die Köpfe der Schlangen. »Bald ist alles vorbei«, murmelte sie, »und ihr dürft wieder in der Kühle und im Dunkeln sein.« Eine der Schlangen suchte Schutz in ihrem Gewand, und da die Menge sich bereits verlief, hinderte Kassandra sie nicht daran.
Die Sänftenträger gingen langsamer und blieben schließlich stehen. Diener hoben Imandra vorsichtig von ihrem Thronsessel. Das war keine leichte Aufgabe. Die Königin schritt langsam auf die Sänfte mit den Priesterinnen und ihren Schlangen zu.
»Kassandra, meine Freundin, kommst du heute abend in den Palast und blickst für mich in die Schale?«
»Mit Vergnügen«, erwiderte Kassandra. »lch komme, sobald ich meine Schlangen versorgt habe, wenn Arikia es erlaubt«, fügte sie mit einem Blick auf die alte Priesterin hinzu, die lächelte und nickend ihre Zustimmung erteilte.
Im Tempel der Schlangenmutter half sie den Trägern, Arikia in ihrem verdunkelten Gemach auf das Lager zu betten. Dann nahm sie ihr die Schlangen ab und badete die Tiere im Brunnen des inneren Hofs. Sie aß ein paar Früchte und etwas Brot, zog ihr einfachstes Gewand an und verließ den Tempel. Inzwischen war es etwas wärmer - die frühe Nachmittagssonne schien -, und auf den Straßen drängten sich die Menschen. Aber niemand erkannte in der schlanken, dunkelhaarigen Frau in ihrem schlichten Gewand die Priesterin, die prächtig gekleidet und von Schlangen gekrönt durch die Stadt getragen worden war.
Die Frauen der Königin führten Kassandra in die königlichen Gemächer. Ein Feuer brannte und verbreitete eine angenehme Wärme. Imandra lag mit gelösten Haaren in einer Hängematte, und ihr Bauch wölbte sich hoch über den Kissen. Der Glanz der Göttin war erloschen, und sie wirkte müde. Das Gesicht war sicher blaß, aber sie hatte sich nicht die Mühe gemacht, die Schminke entfernen zu lassen.
Sie hätte Andromache hier in Kolchis bei sich behalten sollen, anstatt sie nach Troia zu schicken. Dann müßte sie sich jetzt nicht den Gefahren einer späten Geburt aussetzen , dachte Kassandra zu ihrer eigenen Überraschung. Aber jetzt braucht sie wieder eine Tochter, die nach ihr den Thron von Kolchis besteigt.
Als ahne die Königin Kassandras Gedanken, schlug sie die Augen auf.
»Ah, meine Tochter, du bist gekommen, um mir Gesellschaft zu leisten. Ich bin froh. Möglicherweise wird die Kleine« - sie legte die Hand auf den Leib - »noch heute zur Welt kommen. Zum Glück ist die Prozession vorüber, und ich muß die neue Königin nicht auf der Straße gebären. Ich werde bald die Frauen zusammenrufen. Sie sind verärgert, wenn man es ihnen nicht rechtzeitig sagt, denn sie haben ein Recht auf ihr Fest. Kassandra, Liebes, wie alt bist du?« Kassandra versuchte nachzurechnen. In Troia zählte man die Jahre einer Frau nach der Pubertät nicht.
»Ich glaube, im Sommer werde ich neunzehn oder zwanzig«, erwiderte sie. »Mutter hat mir erzählt, daß ich kurz vor der Sommersonnenwende geboren wurde. «
»Dann bist du ein Jahr älter als meine Andromache. Du hast mir erzählt, daß Andromaches ältester Sohn inzwischen alt genug für seinen ersten Bronzehelm ist und Unterricht im Schwertkampf erhält. Ich glaube, ich kenne keine andere Frau in deinem Alter, die nicht verheiratet ist. Manchmal denke ich, du hättest meine Tochter sein
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