Die Finsternis
Händen zu erscheinen, wäre …«, er suchte nach einem passenden Wort, »… unhöflich.« Damit verließ er den Ausrüstungsraum.
»Ich vermute mal, das sollte ein Ja sein«, sagte ich.
Während ich meine Tauchschuhe auszog, dachte ich angestrengt darüber nach, wieso ich Shade aus der Gefängniszelle geholt hatte. Hatte ich auch nur für eine Sekunde daran geglaubt, dass er sein Leben als Gesetzloser aufgeben würde? Nein. In Wahrheit war es mir nur darum gegangen, Shade dazu zu überreden, mich zu den Hardluck Ruinen zu bringen. Mögliche Konsequenzen meines Handelns für die Zukunft – wie Kommandantin Revas sie im Falle des nächsten Jungen auf dem Floß bedacht hatte – hatte ich völlig außer Acht gelassen. Und nun wurde ein Schleppnetzfischer Opfer meines unüberlegten Handelns.
Als ich aufblickte, war ich überrascht, Gemma lächeln zu sehen. »Bist du nicht bestürzt darüber, dass die Gang deines Bruders dabei ist, ein Schiff auszurauben?«
Sie zuckte die Schultern. »Er wird sich nie ändern. Aber ich habe mich verändert«, sagte sie strahlend. »Ich habe nicht einen einzigen Geist gesehen oder auch nur gespürt.«
Ich fragte mich einmal mehr, was sie tatsächlich gesehen hatte. Wie konnte ich so sicher sein, dass es wirklich keine Geister im Meer gab? Genügend Menschen waren jedenfalls darin gestorben.
»Und du kannst wieder bei uns wohnen«, fügte ich hinzu und musste nun ebenfalls lächeln.
Sie nickte, während sie ihren Schuh auszog. »Jetzt, wo ich wieder das tun kann, was du gern tust.«
Etwas an der Formulierung ließ mich aufhorchen. »Aber dass du das nicht konntest, war nicht der Grund, weshalb du vorher nicht mehr bei uns wohnen wolltest, oder?«
»Nicht der einzige Grund.«
»Das sollte überhaupt kein Grund sein«, sagte ich entrüstet. »Ja, ich verbringe meine Zeit gern im Meer, aber es ist mir egal, ob du das auch tust oder nicht.«
Sie zögerte. »Ich glaube, dass es dir nicht egal ist, auch wenn du es nicht wahrhaben willst.«
»Da liegst du falsch«, sagte ich bestimmt. »Ich schreibe die Leute nicht ab, nur weil sie andere Fähigkeiten oder Vorlieben haben als ich. Nur ein kompletter Idiot würde so etwas tun. Denk doch mal nach. Du redest gern. Wenn ein Parasit meine Zunge fressen würde, würdest du mich dann nicht mehr beachten?«
Ein Lächeln umspielte ihre Lippen. »Können wir ein anderes Beispiel nehmen?«
Ich blieb ernst. »Warum denkst du, dass es für mich eine Rolle spielt? Habe ich irgendetwas in der Art gesagt?«
Ihre Wangen liefen verblüffend schnell rot an. Ich hatte offenbar einen Nerv getroffen.
»Nein«, sagte sie schnell und wandte sich ab. »Ich war einfach nur blöd.«
»Was willst du damit sagen?«
»Nichts.« Sie stieg über am Boden herumliegende Schuhe und lief zur Durchgangsluke. »War dumm von mir.«
Als ich noch vor ihr die Luke erreichte, blieb sie stehen und seufzte. »Okay«, gab sie schließlich nach. »Ich habe bemerkt, dass du mich nach meinem ersten Panikanfall nicht mehr so mochtest wie vorher.«
»Du hast vollkommen Recht«, erwiderte ich und sie erstarrte. »Das war dumm von dir.«
»So kam es mir jedenfalls vor«, ging sie in die Defensive.
»Aber wieso?« Und dann dämmerte es mir. »Oh. Weil ich dich nicht noch einmal geküsst habe?« Sie wurde noch röter und ich wusste, dass ich ins Schwarze getroffen hatte. »Und ich dachte, dass ich deine Panikattacke vielleicht verursacht haben könnte.«
»Ich habe dir erklärt, dass es am Meer lag.«
»Hätte doch sein können, dass du das einfach nur so sagst. Ich bin davon ausgegangen, dass du mir ein Zeichen geben würdest, wenn du wolltest, dass ich es noch einmal versuche.«
»Ein Zeichen?«, fragte sie ungläubig.
Jetzt kam ich mir dumm vor, obwohl ich auch erleichtert war, denn jetzt wusste ich mit Gewissheit, dass ich ihre Panikattacke nicht ausgelöst hatte. »Ich wollte nur rücksichtsvoll sein.«
»Okay, Rücksicht ist eine Sache. Aber man kann auch erstaunlich blind sein. Auf was für eine Art Zeichen hast du denn genau gewartet?«, fragte sie und musste sich offensichtlich ein Lachen verkneifen. »Ein drei Meter hohes Hinweisschild mit blinkenden Lichtern?«
Ich lehnte mich vor und küsste sie, zum Teil, damit sie mit ihrer Stichelei aufhörte, aber hauptsächlich, weil ich endlich – wenn auch auf Umwegen – grünes Licht hatte. Ich hatte den Wunsch schon viel zu lange unterdrückt. Ihre Reaktion kam jedenfalls nicht auf Umwegen. Sobald ich ihre
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