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Die Flamme erlischt

Die Flamme erlischt

Titel: Die Flamme erlischt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: George R. R. Martin
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rot. Dort tanzte der Staub, trieb aus der Dunkelheit herein, nahm eine karmesinrote, dann eine goldene Färbung an und warf winzige Schatten, bevor er wieder aus dem Lichtkreis verschwand. Er hob die Hand und streckte sie aus. Minutenlang? Stundenlang? Er wußte es nicht. Sie wurde immer wärmer. Staub wirbelte um sie herum. Schatten kräuselten sich wie fließendes Wasser unter ihr, wenn er die Finger bewegte. Die Sonne war freundlich und vertraut. Aber plötzlich erkannte er, daß die Bewegungen seiner Hand – wie das endlose Wirbeln des Staubes – ohne Zweck, ohne Ordnung und ohne Sinn waren. Die Musik flüsterte ihm das ein, die Musik von Lamiya-Bailis.
    Er zog die Hand zurück und wunderte sich. Rings um das große Licht- und Lebenszentrum gab es eine schmale, wabernde Grenzregion, wo die Sonne durch den Rand des schwarzen und blutroten Mosaikglases schien. Oder sich hindurchkämpfte. Es war nur eine dünne Grenze, aber sie schloß das Land des irisierenden Staubes nach allen Seiten hermetisch ab. Jenseits davon waren die schwarzen Winkel, die Gegenden des Zimmers, die von der Nabe und den Trojanischen Sonnen niemals beschienen wurden, wo fette Dämonen und die Gestalten aus Dirks Angstträumen drohend kauerten, neugierigen Blicken auf ewig verborgen. Belustigt unterzog Dirk diese Winkel einer eingehenderen Untersuchung. Dabei rieb er sein Kinn – Bartstoppeln bedeckten Wangen und Unterkiefer und fingen langsam zu jucken an – und ließ die Musik von Dunkeldämmerung tief auf sich einwirken. Wie er sie jemals hatte verdrängen können, war ihm ein Rätsel, denn jetzt war sie wieder dominierend wie bei seinem ersten Besuch. Der Turm, in dem sie sich befanden, trompetete seinen tiefen Ton. Jahre, entfernt – oder Jahrhunderte – antwortete ein Chor in der schrillen, Monotonie von Klagefrauen. Er hörte unkontrollierte Schluchzer, das Weinen ausgesetzter Säuglinge und das schlüpfrige Gleitgeräusch von Messern, die in warmes Fleisch schneiden. Und die Pauke. Wie konnte der Wind auf eine Pauke schlagen? dachte er. Er wußte keine Antwort darauf. Vielleicht war es etwas anderes. Aber es hörte sich wie eine Pauke an. So schrecklich weit entfernt, und so allein. So unendlich, schauderhaft allein. Die Nebel und Schatten sammelten sich in der entferntesten, düstersten Ecke des Zimmers und begannen sich dann aufzulösen. Dirk sah einen Tisch und einen Stuhl, die wie seltsames Plastikgemüse aus den Wänden und dem Fußboden wuchsen. Einen Augenblick lang fragte er sich, wie er sie überhaupt sehen konnte, die Sonnen waren ein wenig weitergewandert, und jetzt sickerte nur noch spärliches Licht durch das Fenster, bis dieses schließlich ebenfalls absorbiert wurde und die Welt in Grau versank.
    Wenn die Welt grau war, tanzte der Staub nicht mehr. Das konnte er eindeutig feststellen. Nein, überhaupt nicht mehr. Um ganz sicher zu gehen, fühlte er in der Luft nach. Er spürte keinen Staub, keine Wärme, kein Sonnenlicht. Er nickte weise. Ihm schien, als hätte er eine grundlegende Wahrheit herausgefunden. Trübe Lichter begannen sich in den Wänden zu regen, Geister, die zu einer neuen Nacht erwachten. Phantome und Gespenster vergangener Träume. Alle sahen weiß und grau aus, Farbe war dem Lebendigen vorbehalten und hatte hier keinen Platz.
    Die Geister begannen sich zu bewegen. Einer wie der andere waren sie in die Wände eingeschlossen, und von Zeit zu Zeit glaubte Dirk zu sehen, wie einer seinen wilden Tanz unterbrach und hilflos, aber vergebens gegen die gläsernen Wände trommelte, die ihm den Weg in das Zimmer versperrten. Schemenhafte Hände pochten und klopften, aber im Zimmer war nichts zu hören. Stille war ein Bestandteil dieser Dinge. Mochten die Phantome klopfen, soviel sie wollten – letzten Endes waren sie substanzlos und mußten wieder zu ihrem Tanz zurückkehren. Der Tanz ... der makabre Tanz ... formlose Schatten ... oh, wie war er schön! Anmutiges Schlängeln, graziöse Bewegungen, platzende Muster. Grauflammende Wände. So endlos erhabener als die Staubpartikel. Diese Tänzer folgten einem Schema, und ihre Musik war das Lied der Sirenenstadt.
    Trostlosigkeit. Leere. Verfall. Eine einzelne Pauke, in langsamem Rhythmus geschlagen. Allein. Allein. Allein. Alles war sinnlos. »Dirk!«
    Es war Gwens Stimme. Er schüttelte den Kopf, drehte sich um, blickte auf die Stelle hinab, wo sie in der Dunkelheit liegen mußte. Es war Nacht. Nacht. Irgendwie hatte sich der Tag davongestohlen. Gwen sah zu ihm

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