Die Flamme von Pharos
nur auf sie gewartet zu haben schien, und händigte ihr ein mit Wachs versiegeltes Kuvert aus, das sie verblüfft entgegennahm.
»Merci beaucoup«, hörte sie sich selbst sagen, während der Fremde mit unbestimmtem Lächeln nickte, den Zylinderhut aufsetzte und zwischen den Säulen verschwand.
»Monsieur?«, rief Sarah ihm hinterher – aber der geheimnisvolle Gentleman reagierte nicht.
Ein wenig verwundert blickte Sarah auf den Brief, den er ihr gegeben hatte und der einen eigenartigen Geruch verströmte. Sie schnupperte daran und roch süßlichen Tabak, was ihre Neugier nur noch mehr entfachte. Sarah erbrach das Siegel, dessen Initialen »MG« lauteten, öffnete das Kuvert und entnahm ihm eine Karte, die handbeschrieben war. Das Wort invitation – Einladung – sprang Sarah förmlich ins Auge, und gespannt las sie weiter:
»Lady Kincaid, da uns zu Ohren gekommen ist, dass Sie in der Stadt weilen, möchten wir Sie in höflichster Form ersuchen, uns die Ehre Ihres Besuchs zu erweisen. In der Hoffnung, dass Sie Ihre wertvolle Zeit in dieser wunderbaren Stadt noch nicht anderweitig vergeben haben, würden wir uns freuen, Sie am morgigen Abend zu unserer Darbietung im Varieté ›Le Miroir Brisé‹, Rue Lepic, Montmartre, als unseren Ehrengast begrüßen zu dürfen. In hochachtungsvoller Ergebenheit: Maurice du Gard, Wahrsager und Hypnotiseur.«
Nun, da sie den Inhalt des Schreibens kannte, war Sarah noch verwunderter als zuvor. Wer, in aller Welt, war dieser Maurice du Gard? Woher kannte er ihren Namen und wusste, dass sie sich in Paris aufhielt? Und wie, in aller Welt, kam er dazu, sie zu seiner Varietédarbietung einzuladen?
In einer ersten Reaktion blickte Sarah in die Richtung, in der der rätselhafte Überbringer der Karte verschwunden war, aber von ihm war weit und breit nichts mehr zu sehen und also auch keine Antwort zu erwarten. Was aber sollte das sein? Ein schlechter Scherz? Ein Trick, den Hingis und seine Gefolgsleute sich ausgedacht hatten, um sie noch einmal vorzuführen?
Nach dem, was im Auditorium vorgefallen war, konnte Sarah sich so ziemlich alles vorstellen – aber es änderte nichts daran, dass ihr die Einladung schmeichelte. Wahrsagerei und Hypnose waren zwar beileibe nichts, wofür sie sich erwärmen konnte – im Gegenteil, sie war davon überzeugt, dass das eine wie das andere billiger Hokuspokus war, mit dem man allenfalls schlichte Gemüter beeindrucken konnte – jedoch gefiel ihr nach der herben Behandlung, die ihr vor dem Gremium zuteil geworden war, der freundliche Wortlaut der Einladung. Wenigstens, sagte sie sich, schien ihr nicht ganz Paris feindlich gesonnen zu sein …
Sarah warf einen Blick auf die Adresse.
Montmartre.
Zweifellos würden ihre Zofe und ihr Kutscher, die sie nach Paris begleitet hatten, nicht sehr erbaut darüber sein, wenn sie ausgerechnet jenem Teil von Paris einen Besuch abstattete, den ehrbare Bürger abschätzig als demimonde bezeichneten, als Halbwelt, die die Heimat von Gaunern und Prostituierten, aber auch von Künstlern und Mäzenen war. Zudem hatten sich dort seit einigen Jahren kleine Theater und Varietés niedergelassen, sodass der Montmartre auf dem besten Weg dazu war, sich zum Amüsierviertel von Paris zu entwickeln, zum schillernden Tummelplatz obskurer Gestalten und vergnügungshungriger Bürger.
Ein verwegenes Grinsen huschte über Sarahs Züge. Niedergeschlagen, wie sie sich fühlte, war die Halbwelt des Montmartre vielleicht der rechte Ort für sie, und ein wenig Zerstreuung konnte ihr nach allem, was ihr widerfahren war, tatsächlich nicht schaden. Vielleicht, sagte sie sich, würde sie so auf andere Gedanken kommen und ihren Ärger und die Enttäuschung für ein paar Stunden vergessen.
Einen Abend lang würde sie ihr bürgerliches Dasein hinter sich lassen und dem Leben der Boheme frönen, eintauchen in eine andere, fremde Welt, in der alles möglich, aber nichts so war, wie es schien. Sarah Kincaid ahnte nicht, dass es eine Reise ohne Rückkehr sein würde.
3
P ERSÖNLICHES T AGEBUCH S ARAH K INCAID
N ACHTRAG
Ich staune, wie sich der Montmartre verändert hat.
Als ich zuletzt hier war, war ich noch ein junges Mädchen. Sanfte Hügel und Weinberge prägten damals das Bild der Landschaft, auf deren Kuppen sich malerische Windmühlen erhoben. Die Weinberge gibt es noch, aber sie sind umbaut von Häusern, die sich in engen Straßen und Gassen rings um die Hügel winden, und über allem thront der begonnene, aber noch längst nicht
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