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Die Flamme von Pharos

Die Flamme von Pharos

Titel: Die Flamme von Pharos Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Peinkofer
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für den Zuschauerraum. Dass es sich dabei ursprünglich um die Scheune des alten Weinguts gehandelt hatte, war nicht mehr zu erkennen. Auch hier bedeckten seidene Tapeten die Wände, und funkelnder Glitter an der Decke sorgte für die Illusion eines Sternenhimmels bei klarer Nacht. Die Sitze – Sarah schätzte, dass der Raum an die zweihundert Besucher fasste – waren samtbeschlagen. Die meisten Reihen hatten sich bereits gefüllt, nur in den Logen waren noch Plätze frei. Verwundert nahm Sarah zur Kenntnis, dass der Theaterdiener sie eben dorthin führte, zu einem Sitz in der ersten Reihe, der uneingeschränkte Sicht auf die Bühne bot.
    »Sind Sie sicher, dass dies mein Platz ist?«, erkundigte sie sich verwundert.
    »Bien sûr, Madame«, gab der Diener mit würdevoller Miene zurück. »Monsieur du Gard hat diesen Platz eigens für Sie ausgewählt.«
    »Demnach kennt er mich?«
    »Gewiss«, erwiderte der Diener rätselhaft. »Monsieur du Gard kennt viele Menschen. Und er weiß alles über sie …«
    Er wartete ab, bis Sarah sich gesetzt hatte, dann verbeugte er sich höflich und entfernte sich. Ein wenig ratlos blieb Sarah zurück. Noch immer fragte sie sich, wie besagter Maurice du Gard, der ein ziemlich geheimnisvoller Zeitgenosse zu sein schien, dazu gekommen war, sie einzuladen. Kannte er sie tatsächlich? Oder war er vielleicht ein Bekannter ihres Vaters?
    Sie sann darüber nach, während der Saal sich vollends füllte. Auch die Logenplätze zu Sarahs Seiten wurden eingenommen, von Männern in Fräcken und Frauen, deren süßlich-blumiger Duft Sarah fast den Atem raubte. Unvermittelt erlosch der künstliche Sternenhimmel, und es wurde dunkel. Ein einzelnes Bühnenlicht flammte auf, das einen hellen Lichtkreis auf den Vorhang warf. Ein Trommelwirbel erklang, und eine Beifall heischende Stimme verkündete: »Mesdames et Messieurs, begrüßen Sie mit mir den Meister des Übersinnlichen, den Magier des Tarot, den Herrn der Hypnose – den großen Maurice du Gard!«
    Beifall brandete auf, zu dem sich der Vorhang teilte – und aus der Dunkelheit trat ein schlanker Mann ins Rampenlicht.
    Die glitzernde, mit allerlei fremdartigen Zeichen bestickte Robe, die er trug, sah nach billigem Kirmeszauber aus, wodurch Sarah ihre Vorurteile nur bestätigt fand. In Maurice du Gards Gesicht jedoch entdeckte sie etwas, womit sie nicht gerechnet hatte: Tiefer Ernst stand in den blassen, von schulterlangem schwarzem Haar umrahmten Zügen zu lesen, deren Alter unmöglich zu schätzen war. Und in du Gards Augen entdeckte Sarah die geweiteten Pupillen eines Menschen, der Opiate zu sich nahm.
    So befremdet sie einerseits von du Gards Erscheinung war, so fasziniert war Sarah auf der anderen Seite. Und diese Mischung blieb bestehen, während du Gard sich auf der Bühne alle Mühe gab, die Zuschauer das Staunen zu lehren. Das Rampenlicht erlosch, und im Schein zweier Kerzen begann du Gard, die Zukunft zu deuten, indem er Tarotkarten legte und eine funkelnde Kristallkugel befragte. Augenblicke ausgelassener Heiterkeit – etwa wenn er einem Herrn in der vierten Reihe prophezeite, dass diesen schon bald ein dringendes Bedürfnis überkommen werde, was prompt auch kurz darauf geschah – folgten solche von atemloser Dramatik, als er in zwei Menschen aus dem Zuschauerraum, die einander vorher niemals begegnet waren, zwei in einem früheren Leben getrennte Geschwister erkannte und wieder zusammenführte. Tatsächlich stellte sich heraus, dass beide von denselben Dingen träumten, was du Gard als Beweis für eine frühere Existenz deutete und wofür er tosenden Beifall erntete.
    So sehr Sarah sich gegen all dies sträubte, und so sehr sie nach rationalen Lösungen suchte (die freilich einfach zu finden waren), konnte sie nicht anders, als sich von der allgemeinen Begeisterung mitreißen zu lassen. Wehrte sie sich am Anfang noch dagegen, in du Gard etwas anderes zu sehen als einen gewitzten Scharlatan, nötigte die Art und Weise, wie er sich auf der Bühne präsentierte und das Publikum in seinen Bann schlug, ihr Respekt ab. Unwillkürlich fragte sie sich, wie ein Mann vom Schlage du Gards wohl mit einem Intriganten wie Friedrich Hingis umgesprungen wäre, und wünschte sich, auch nur einen Hauch des Selbstbewusstseins und der Ausstrahlung zu besitzen, die du Gard auf der Bühne verströmte.
    Dankbar für die Zerstreuung, die die Darbietung ihr bot, gab Sarah schließlich jeden rationalen Widerstand auf und machte das, was alle im Saal taten:

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