Die Flammen der Dunkelheit
Niemand hat je ihre Gesichter gesehen.« Lasair schaute keinen der beiden Freunde an, die links und rechts neben ihr standen.
»Das ist auch unnötig«, meinte Glic. »Ich kann dir sagen, wer im Boot ist: ein mürrischer Kerl, ein vorlauter und ein frecher Vogel!«
»Bist du sicher?«, fragte sie lächelnd.
»Ja!«
»Das klingt nach einer fähigen Mannschaft!«, sagte Dorc.
Lasair widersprach nicht, es war also beschlossen. Aber sie redeten mit keiner Seele über ihr Vorhaben und sogar Glic hielt den Mund. Sie ahnten, dass sie nicht mit Verständnis rechnen konnten. Zum Glück wollte niemand wissen, warum sie Tag für Tag im Bootshaus zusammen mit Dorc an einem Schiff bauten. Endlich war der Rumpf fertig und sie konnten sich den Aufbauten widmen; abends saßen sie am Kai und nähten die Segel.
»Schnitze uns lieber noch ein paar Ruder!«, spottete Glic, nachdem sich Dorc zum wiederholten Mal mit der Ahle in die Finger gestochen hatte. »Blutrote Segel finde ich irgendwie unpassend.«
»Nein, ich will, dass wir das hier bald fertig haben und aufbrechen können.«
»Du kannst es wohl kaum noch erwarten?«
»Stimmt!«
Lasair hörte dem Wortwechsel zu und spürte der Wehmut nach, die sie ergriffen hatte. Es würde ihr schwerfallen, die Insel und die Aos Sí zu verlassen, doch sie hatte sich entschieden.
Viel zu schnell waren die Segel angebracht und Vorräte an Bord geschafft. Mithilfe einiger Fischer ließen sie das Schiff ins Wasser und befestigten es am Kai. Stolz betrachteten die beiden Männer ihr Werk. Es war ein stabiles Boot, das sicher viele Stürme überstehen würde, und durch Lasairs Einfluss hatte es auch an Eleganz gewonnen. Einen Namen wollten sie ihm nicht geben. Glic hatte eines Tages gesagt, das Schiff sollte einfach nur ein Schiff sein dürfen. Lasair und Dorc verstanden sofort.
Ein letztes Mal gingen sie zu der Weide vor der Stadt, legten Muscheln auf die Erde und hielten stille Zwiesprache mit den beiden Toten. Sie wussten nicht, was mit Ardals Hab und Gut geschehen war, sie hatten sich nie überwinden können sein Haus wieder zu betreten.
In der Nacht schlich sich Lasair an Grians Bett, um von der Schlafenden Abschied zu nehmen. Es bedrückte sie, dass sie sich heimlich fortstehlen musste, aber sie kannte ihre Schwester gut genug, um zu wissen, dass Grian sie nie ziehen lassen würde. Vielleicht war diese Reise mit ungewissem Ausgang wirklich ein Fehler, aber dann musste sie ihn begehen. Auf dem Weg zum Hafen vermied sie sorgfältig jede Begegnung mit ihrem Volk. Viele waren ohnehin nicht wach zu dieser Stunde, die meisten träumten, und manche sahen Bilder in ihrem Traum vom langen Kampf der Aos Sí, die die Sonne wiederbekommen, aber die Flamme verloren hatten.
Glic und Dorc warteten schon ungeduldig an Bord. Bevor der Morgen graute, stachen sie in See. Der Wind blies gleichmäßig und nicht zu stark. Nachdem die Segel festgezurrt waren und das Schiff an Fahrt aufgenommen hatte, standen sie vorne an der Reling und sahen zu, wie sich das Licht über den Horizont ergoss. Keiner von ihnen drehte sich noch einmal um.
eISBN 978-3-7090-0024-3
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