Die Flockenleserin. Ein Hospiz, 12 Menschen, ein Mörder.
Detail. Ihre Erzählung begann damit, dass sie nun manchmal Besuch von Fee bekam – und sie endete mit der Schilderung eines Besuchs von Nepomuk, der schlafend in ihrem Sessel gelegen hatte.
„Ich dachte, mein letztes Stündchen hätte geschlagen und schrie vor Schreck. Daraufhin hob die Katze ihren Kopf und ich erkannte, dass es gar nicht Nepomuk war – sondern Mimi!“
Mike musste lauthals lachen. „Wie geht es den anderen Gästen?“
„Frau Prinz ist immer noch die Erste bei Tisch. Sie regt sich wahnsinnig darüber auf, dass Omi nie mehr nach unten kommt. Sie sollten Klärchen Krause einmal besuchen, Mike. Ich habe gehört, dass es ihr gar nicht gut geht. Bella Schiffer ist gelber als eine Quitte, aber sie hält sich wacker. Vor einigen Tagen ging es ihr sehr schlecht, aber das war ihre eigene Schuld. Soweit ich weiß, war sie mit ihrem Mann zu ihren Eltern gefahren, die sieben Stunden entfernt leben. Kaum waren die Schiffers dort angekommen, ließ die Wirkung von Bellas Morphium nach und sie litt unter schrecklichen Schmerzen. Leider hatte sie ihre Pillen in Haus Holle vergessen. Die Rückfahrt war der pure Horror. Bella starb fast vor Schmerzen. Heute ist ihr Tag X ! Unsere arme Mitbewohnerin glaubt, dass sie in wenigen Stunden sterben muss – weil ihr Arzt das damals ausgerechnet hatte.“
„Und Annette?“, fragte Mike.
„Wohlauf und munter“, antwortete Minnie. „Sie freut sich riesig auf ein Familienfest, das Angie im Grünen Saal ausrichtet.“
„Und Montrésor?“
„Mal ist er wuschig , wie er es selbst nennt, dann hat er wieder glasklare Momente. Die Beule an seinem Hinterkopf nimmt immer monströsere Formen an. Außerdem fragt er den ganzen Tag nach seiner Frau. Gott sei Dank wurde die Quarantäne von Lisa Montrésor inzwischen aufgehoben. Heute darf Adolf sie zum ersten Mal in der Klinik besuchen.“
„Und Sonja?“
„Von ihr hört und sieht man nichts mehr“, wusste Minnie. „Mutter Merkel wirkt ziemlich betrübt. Seit kurzem lässt sich Hildegard Kostjas Speisen ins Zimmer bringen. Aber, und das wird Sie interessieren, es gibt einen neuen Gast!“
„Tatsächlich?“
Fast hätte Mike vergessen, dass nach Berthold Pellenhorns Abgang ein neuer Bewohner nachgerückt war. „Wer ist es?“
„Ein junger Mann namens Jesse. Höchstens 25 Jahre alt und ein ziemlicher Computerfreak. Er hat sein ganzes Zimmer mit Videokameras ausgestattet und überträgt so genannte Live-Bilder, so erzählte mir Bruno, aus dem Hospiz. Wussten Sie, dass man über das Internet zusehen kann, was jemand gerade macht?“
„Natürlich“, antwortete Mike. „War Jesse schon mal beim Essen?“
„Er lässt keine Mahlzeit aus“, sagte Minnie, „und wird ständig von seinem jüngeren Bruder und seiner älteren Schwester begleitet. Die beiden Jungs sind Förster, die Schwester wirkt leicht überfordert.“
„Warum ist Jesse hier?“
„Keine Ahnung“, meinte Minnie. „Sein rechtes Bein ist entsetzlich dick. Angeblich wuchert ein Tumor darin – genau wie bei Nadine. Er hat sich bereits mit der jungen Mutter angefreundet.“
Dann erkundigte sich Mike nach Marius Stamm, und merkte, dass Minnie ins Schwärmen geriet.
„Marius ist wirklich ein Kavalier. Heute Abend hat er mich zu einem Drei-Gänge-Menü in den Grünen Saal eingeladen. Seit er hier ist, blühe ich auf. Gott sei Dank geht es ihm blendend.“
Mike staunte über die spät erwachte Leidenschaft der alten Dame. Bahnte sich etwa eine Romanze an? Fast wirkte es so, denn plötzlich schlich sich ein Hauch Rosa auf Minnies weiße Wangen.
In diesem Moment erwachte Mikes Vater. „Wir müssen ein Boot kaufen“, sagte er flüsternd.
Minnie sah Mike fragend an.
Herbert hauchte: „Zyankali!“
„Was möchtest Du, Papa?“ Der junge Reporter, aber auch Anne, die beim leisesten Flüstern ihres Mannes aus dem Schlaf aufschreckte, waren sofort an seiner Seite.
Der Kranke grinste. „Da seid Ihr ja… Wenn mal was ist, will ich Zyankali…“
Herbert Powelz schlief wieder ein.
Bevor sich Minnie hübsch machen konnte, erhielt sie Besuch von Dr. Albers.
„Klopf, klopf“, sagte der Psychologe. „Ich möchte kurz wissen, wie es Dir geht…“
„Gut“, entgegnete die alte Dame. „Ich ziehe mich gerade um. Heute ist doch mein Abend .“
Andreas lächelte.
„Ich weiß, meine Liebe. Wie schön, Dich aufblühen zu sehen. Und ansonsten? Kann ich etwas für Dich tun?“
„Ja.“ Die Worte kamen schnell und bestimmt. „Ich habe einen
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