Die Flockenleserin. Ein Hospiz, 12 Menschen, ein Mörder.
nicht machen. Deshalb waren Mikes Gefühle nun zwiespältig. Einerseits wollte er seinen alles schaffenden Vater loslassen, andererseits brach es ihm das Herz. „Fifty-fifty also“, sagte er, die Wahrheit erkennend.
Er ergriff die schmale, weiße Hand seines Vaters. „Papa, versprich mir drei Dinge. Dass wir uns wiedersehen, dass Du uns von oben beschützt, und dass Du uns abholst, wenn wir eines Tages sterben.“
Sein Vater zwinkerte Mike zu. „Versprochen“, flüsterte er. „Du kannst Dich darauf verlassen.“
„Und sehen wir uns morgen wieder, wenn Du gleich einschläfst?“
„Wenn Du willst…“
„Soll ich Dir noch etwas vorlesen?“
Mike ergriff ein Buch, das er im Regal des Wohnzimmers gefunden hatte und begann willkürlich mit der ersten Geschichte, Eugen Roths Die Briefmarke .
Als er fertig war, sagte Herbert: „Bitte bringe mich jetzt ins Bett. Ich möchte endlich etwas schlafen.“
Widde Widde an Tag X (Aber die Liebe bleibt)
Fünf Tage später klopfte es zaghaft, aber eindringlich, an die Tür von Zimmer 12.
Mike öffnete rasch, weil seine Eltern gerade schliefen. Sie hatten eine unruhige Nacht hinter sich. Die Abstände, in denen Mikes Vater nach Tavor verlangte, wurden immer kürzer, während seine Husten- und Panikanfälle länger und länger andauerten.
Vor der Tür stand Minnie.
Die alte Dame war aufgeregt. „Schauen Sie mal aus dem Fenster!“
Gemeinsam blickten sie hinaus. Vor der Rampe von Haus Holle wartete ein Krankenwagen.
„Jemand wird abgeholt“, sagte Minnie. „Aber ich weiß nicht, wer!“
Des Rätsels Lösung folgte auf den Fuß. Zuerst erschien Bruno auf der Bildfläche, anschließend traten Dr. Aracelis, Dr. Coppelius und Dr. Albers aus dem Haus. Zuletzt trugen zwei Krankenpfleger einen männlichen Gast nach draußen.
„Das ist Cristiano!“
Mike war erstaunt, als er sah, dass der dünne Dietmar zwei große Koffer aus dem Haus schleppte. Auch Hendrik half mit: Er trug zwei gerahmte Bilder, die Ansichten von Lissabon zeigten. Zuletzt folgte die Hauswirtschafterin mit einer Stereoanlage.
Mike ärgerte sich, dass er das Zimmer seines Vaters in den vergangenen Tagen kaum hatte verlassen können. „Cristiano zieht aus – so ein Mist! In den letzten fünf Tagen habe ich so oft vergeblich an seine Tür geklopft, um mit ihm über die Geschehnisse in der Todesnacht der Knopinskis zu sprechen. Doch obwohl Cristiano bester Laune war, hat er jedes Gespräch abgeblockt. Unleidlich, wie alle sagen, wirkte er kein bisschen. Ist das nicht verwunderlich? Ob er wohl wieder gesund ist?“
Fragend sah Mike Minnie an.
Die alte Dame fuhr sich über die Lippen. „Er wirkt wirklich extrem zufrieden. Dabei habe ich gehört, dass er komplett gelähmt sein soll, Morphium ablehnt und unter großen Schmerzen leidet…“
In diesem Moment schloss sich die Tür des Krankenwagens. Das Letzte, was Minnie erkennen konnte, war Cristianos freundlicher Abschiedsgruß für die Ärzte.
„Ich werde Bruno fragen, warum er Haus Holle verlässt“, beschloss Mike.
„Unbedingt“, forderte Minnie. Die alte Dame bereitete sich seit Tagen auf den heutigen Tangoabend mit Marius vor. Trotzdem war es ihr noch wichtiger, das Rätsel der alten Knopinskis zu lösen. Außerdem wollte sie unbedingt wissen, ob es zwischen Professor Pellenhorns plötzlichem Erstickungsanfall und dem Tod der Knopinskis einen Zusammenhang gab.
Sie wandte sich Mike zu. „Nach dem Tangoabend mit Marius werde ich nochmal ins Krankenhaus gehen. Ich brauche unbedingt eine neue Blutwäsche. Sonst halte ich nicht mehr lange durch.“
Der Reporter hatte bereits gemerkt, dass Minnie weißer aussah als jemals zuvor.
„Den heutigen Abend“, sagte sie, „werde ich kräftemäßig gerade noch schaffen. Aber ich bin immer müder. Neulich bin ich sogar beim Abendessen eingeschlafen. Marisabel Prinz war natürlich entsetzt.“
„Wann kommen Sie zurück?“
„Ich glaube nicht, dass ich wieder fünf Tage in der Klinik bleiben muss“, entgegnete Minnie. „Sie wissen ja selbst, dass es beim letzten Mal ein paar Komplikationen gab. Zweimal hintereinander wird mir so etwas Blödes nicht passieren.“
Mike lenkte das Gespräch in eine neue Richtung, und fragte, wie es den anderen Gästen ging.
Gott sei Dank erwies sich Minnie als aufmerksame Beobachterin. Sie verschwieg, dass sie den bösartigen Kindgreis erneut zu sehen geglaubt hatte, um nicht als verrückt abgestempelt zu werden. Ansonsten schilderte sie Mike jedes
Weitere Kostenlose Bücher