Die Flockenleserin. Ein Hospiz, 12 Menschen, ein Mörder.
Mike und Minnie mussten warten.
Indes verschlechterte sich die Lage seines Vaters immer weiter. Zumindest kam es Mike so vor. Manchmal war sein Vater extrem unruhig. In diesen Momenten wollte er sich plötzlich im Bett aufsetzen und ein paar Schritte gehen, um enttäuscht festzustellen, dass es leider nicht gelang.
Am Tag nach Professor Pellenhorns Tod erwachte Herbert aus einem tiefen Schlaf.
„Ausgeschlafen oder abgebrochen?“, fragte sein Sohn.
Der Spruch war ein alter Witz zwischen Herbert und Mike, die sich Enok und Ekim nannten, wobei Ekim die umgekehrte Reihenfolge der Buchstaben in Mikes Namen war.
„Abgebrochen, Ekim “, sagte der Vater. „Ich möchte mal zwei Wochen am Stück schlafen.“
Mike schaute aus dem Fenster, und sah, dass Berthold Pellenhorns Sarg abgeholt wurde. Einige Bewohner standen Spalier, Marisabels Schluchzen war deutlich zu hören. Das Flüstern seines Vaters riss ihn zurück in die eigene Wirklichkeit.
„Ich hätte gern ein Kraftmittel“, hauchte Herbert. Der Sohn setzte sich ans Bett seines Vaters.
„Ich habe Dich lieb, Papa.“
„Ich habe Dich auch lieb. Wäre ja auch schlimm, wenn wir uns nicht lieb hätten!“
„Versprich’ mir nochmal, dass wir uns wiedersehen! Ich möchte es auf Tonband aufnehmen.“
Der Journalist drückte auf die Record-Taste seines Diktiergeräts, mit dem er sonst Interviews aufnahm. „Jetzt, Papa…“
„Ich habe Dich lieb, Ekim“, flüsterte Herbert.
„Und, dass wir uns wiedersehen“, forderte der Sohn.
„Und, dass wir uns wiedersehen“, sprach Herbert nach. Mike sah, dass der Mund seines Vaters innen ganz weiß geworden war.
Plötzlich wurde der Kranke unwirsch. „Kannst Du diesen ganzen Engels-Klimbim und die glitzernden Weihnachts-Elche aus dem Zimmer bringen? Ich will nur noch ins Bett. Bringst Du mich endlich ins Bett?“
„Sag’ mal, Papa“, fragte Mike eindringlich. „Wie steht es eigentlich um Dich? Wie fühlst Du Dich?“ Der junge Journalist wusste, dass in diesen schweren Stunden nur eines zählte: reden, reden und nochmals reden. Das war seine goldene Regel, wann immer ihm etwas Neues auffiel – und vor einer Minute hatte er eine seltsame Stelle unter den Haaren seines Vaters erblickt.
„Fifty-fifty“, flüsterte Herr Powelz. „Aber ich habe ein Leck-mich-am-Arsch-Gefühl.“
Das war eine neue Entwicklung. Früher hatte Herbert sogar an den miesesten Tagen geantwortet, dass er den Krebs besiegen würde, und seinen Daumen verheißungsvoll in die Höhe gereckt – nach dem Motto: Alles wird gut. Es war ein Ausdruck seines Optimismus und seiner Überlebenskunst, die sich auch in seiner ganzen Lebensgeschichte wiedergespiegelt hatte. Bis zum Alter von 14 Jahren war der kleine Herbert in einem Gelsenkirchener Kinderheim groß geworden. Dann schickten ihn die Nonnen aufs Land, weil sie eine Stelle bei einem Malermeister für ihn gefunden hatten. Herbert war stark beeindruckt von der kleinen Dorfgemeinschaft, die auf ihn wirkte wie eine Großfamilie. Der Teenager arbeitete sich rasch hoch. Während der Ausbildung wohnte er bei einer Witwe zur Untermiete – und heiratete ihre Tochter. Mit Anne Kumbrink bekam er drei Kinder und fand eine Anstellung in einem Kleinstadtgeschäft.
Farben, Lacke und Tapeten – Mike konnte den Dreiklang im Schlaf aufsagen. Wann immer er den Latein- und Sportunterricht schwänzte, und lieber durch die Fußgängerzone radelte, stand sein Vater verschwörerisch grinsend und eine Zigarette rauchend vor dem Geschäft für Farben, Lacke und Tapeten. Für einen Klönschnack mit den Ahauser Bürgern hatte Herbert immer Zeit gehabt. Damals hatte er allen Grund für seine gute Laune gehabt, schließlich war es ihm gelungen, seinen Traum zu verwirklichen. Endlich besaß er eine eigene Familie, ein eigenes Haus – und er verstand sich auf die Kunst, den Clan geschickt zu vergrößern, indem er seine Großeltern aus dem Ruhrgebiet nach Ahaus geholt hatte. Jedes noch so weit entfernte Familienmitglied – egal ob unverheiratete Tante, Großmutter oder angeheirateter Gatte der Uroma, war Herbert willkommen gewesen. Jeder wurde bis zum Tod gepflegt, betrauert und beerdigt. Anschließend ging Herberts Leben weiter. Manchmal träumerisch, aber immer glücklich, zupackend und lachend.
Mike vergaß nie, was sein Vater ihm einmal gesagt hatte: „ Egal, was passiert, wir werden immer für Dich da sein – sogar, wenn Du ein Mörder wirst .“ Ein größeres Geschenk konnte ein Vater seinem Sohn
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