Die Flucht

sich.
    »Bitte.«
    Bitte, bitte, bitte, bitte, bitte!
    »Wenn du so schön bittest ... «, schallt es über den Platz. Um die Ecke der Kirche biegt ein Pferd.
    Mit einem Reiter.
    »Nein«, flüstere ich.
    Nein.
    »Doch, Todd«, sagt Bürgermeister Prentiss. »Du kannst deinen Augen ruhig trauen.«
    Lässig kommt er über den Platz auf mich zugeritten. Er ist so ungerührt wie immer, kein Schweißfleck ist auf seiner Kleidung, sogar Reithandschuhe trägt er, auf seinen Stiefeln liegt kein Stäubchen.
    Das kann nicht sein.
    Das ist ganz und gar ausgeschlossen.
    »Wie ist das möglich?«, frage ich mit erhobener Stimme. »Wie?«
    »Jeder Einfaltspinsel weiß, dass es zwei Straßen gibt, die nach Haven führen«, antwortet er sanft, aber auch ein wenig hämisch.
    Die Staubwolke, die wir gesehen haben. Die Staubwolke, die wir gestern gesehen haben, wie sie sich auf Haven zubewegte.
    »Aber wie?« Ich bin so fassungslos, dass ich kaum ein Wort hervorbringe. »Die Armee ist doch mindestens einen Tagesmarsch entfernt.«
    »Manchmal haben die Gerüchte, dass eine Armee anrückt, genau die gleiche Wirkung wie die Armee selbst, mein Junge«, gibt er mir zur Antwort. »Die Bedingungen der Kapitulation waren äußerst milde. Eine davon war, die Straßen freizuhalten, damit ich dich hier persönlich willkommen heißen konnte.« Er blickt zum Wasserfall hinauf. »Obgleich ich natürlich davon ausging, dass mein Sohn dich hierherbringen würde.«
    Ich schaue mich auf dem Platz um, und jetzt sehe ich Gesichter, Gesichter hinter den Fenstern, hinter Türen.
    Und ich bemerke vier andere Männer, die hinter der Kirche hervorgeritten kommen.
    Ich wende mich wieder Bürgermeister Prentiss zu. »Präsident Prentiss heißt das jetzt«, erklärt er. »Du tätest gut daran, das nicht zu vergessen.«
    Und dann fällt es mir auf.
    Ich kann seinen Lärm nicht hören.
    Ich kann niemandes Lärm hören.
    »Ja«, sagt er, »das ist eine interessante Geschichte, wenn auch nicht unbedingt das, was du vielleicht ...«
    Viola rutscht noch etwas weiter aus meinen Armen, der Ruck lässt sie aufstöhnen. »Bitte«, bettle ich. »Rettet sie! Ich werde alles tun, was ihr verlangt. Ich werde zur Armee gehen! Ich werde ...«
    »Dem Geduldigen wird Gnade zuteil«, sagt der Bürgermeister leicht verdrossen.
    Leichtfüßig springt er in einem Satz vom Pferd und streift seine Handschuhe ab, einen Finger nach dem anderen.
    Und ich weiß, wir haben verloren.
    Alles ist verloren.
    Alles ist aus.
    »Als frisch gekürter Präsident dieses schönen Planeten«, beginnt der Bürgermeister und streckt seine Hand aus, als wolle er mir eine Welt zu Füßen legen, »lass mich der Erste sein, der euch in der neuen Hauptstadt begrüßt.«
    »Todd?«, flüstert Viola mit geschlossenen Augen.
    Ich drücke sie ganz fest an mich.
    »Es tut mir leid«, flüstere ich. »Es tut mir so leid.«
    Wir sitzen in der Falle.
    Wir sind bis ans Ende der Welt geflohen.
    »Willkommen«, sagt der Bürgermeister. »Willkommen in New Prentisstown.«

 
     
    Patrick Ness wuchs in den USA auf und lebt seit 1999 in London. Der vielfach ausgezeichnete Literaturkritiker und Radio-Autor hat bereits zwei erfolgreiche Romane für Erwachsene verfasst und unterrichtet an der Universität von Oxford. »Die Flucht« ist sein erstes Jugendbuch.
     
    Für »Die Flucht« wurde Patrick Ness mit dem Guardian Children’s Fiction Prize ausgezeichnet. Der Guardian Award ist ein Literaturpreis, der seit 1967 von der Zeitung The Guardian an britische Autoren von Kinder- und Jugendbüchern verliehen wird.
     
    »Unglaublich fesselnd – ein aufregend anderes Buch!«
    Jury des Guardian Children’s Fiction Prize
     
    »Ein außergewöhnlicher Roman!«
    The Times
     
    »Manchmal stößt man auf ein Jugendbuch von überraschend literarischer Schönheit: ›Die Flucht‹ von Patrick Ness ist so eins.«
    The Literary Review