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Die Flucht

Titel: Die Flucht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patrick Ness
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kommt der Sumpf vor wie ein großes, gemütliches, ruhiges Zimmer. Düster, aber lebendig, lebendig, aber freundlich, freundlich, aber nicht vereinnahmend.
    Manchee hebt sein Bein buchstäblich überall, bis ihm wahrscheinlich die Pisse ausgeht, dann rennt er unter einen Busch, plappert etwas vor sich hin und sucht sich einen Platz, wo er, nehme ich an, sein großes Geschäft machen kann.
    Aber dem Sumpf macht das nichts aus. Wie sollte es auch? Es ist alles Leben, es vergeht, kehrt immer und immer wieder,verschlingt sich selbst, um zu wachsen. Das heißt aber nicht, dass es hier keinen Lärm gibt. Man kann vor dem Lärm nicht weglaufen, so viel ist sicher, aber hier ist es ruhiger als in der Stadt. Die Geräusche sind anders, sie entspringen nur der Neugier, sie kommen von Tieren, die wissen wollen, wer du bist und ob du eine Gefahr darstellst. Die Stadt dagegen weiß schon alles über dich und möchte immer noch mehr wissen und möchte dich mit dem, was sie weiß, in die Knie zwingen, was soll denn da überhaupt noch von einem Menschen übrig bleiben?
    Aber der Lärm im Sumpf, das sind nur die Vögel, die ihre ängstlichen, kleinen Vogelgedanken denken. Wo ist Futter? Wo ist das Nest? Wo bin ich sicher? Und dann die wachsbleichen Eichhörnchen, kleine Rabauken, die dich necken, wenn sie dich sehen, wenn nicht, dann necken sie einander, und die rotbraunen Eichhörnchen, die wie einfältige kleine Kinder sind, und manchmal sieht man auch Sumpffüchse im Gebüsch, sie ahmen den Lärm der Eichhörnchen nach, die sie fressen, und ab und zu sieht man sogar Maven, die ihre eigentümlichen Maven-Lieder singen, und einmal, ich schwör’s, habe ich sogar einen Cassor auf seinen zwei langen Beinen staksen sehen, aber Ben glaubt das nicht, Ben sagt, es gibt schon lange keine Cassors mehr im Sumpf.
    Ich weiß nicht. Ich habe beschlossen, meinen eigenen Augen zu trauen.
    Manchee kommt wieder aus den Büschen und setzt sich neben mich, weil ich so unvermittelt stehen geblieben bin. Er schaut sich um, will herausfinden, was ich entdeckt haben könnte, und sagt dann: »Gut gekackt, Todd.«
    »Darauf wette ich, Manchee.«
    Wenn ich Geburtstag habe, möchte ich lieber nicht noch einen räudigen Hund. Was ich mir dieses Jahr wünsche, ist ein Jagdmesser, eines wie Ben immer hinten an seinem Gürtel stecken hat. Das ist ein Geschenk für einen Mann.
    »Kacken«, sagt Manchee leise.
    Wir gehen weiter. Die meisten Apfelbäume stehen ein Stück im Sumpf; um sie zu erreichen, muss man verschlungene Pfade gehen und über einen umgestürzten Baum springen, Manchee muss ich immer hinüberhelfen. Als wir dort sind, fasse ich ihn um den Bauch und stelle ihn auf den Stamm. Obwohl er schon weiß, was ich mit ihm mache, zappelt er wie wild, fast wie eine Spinne, die von der Decke fällt, und führt sich auf wegen nichts und wieder nichts.
    »Halt doch still, du Armleuchter!«
    »Runter, runter, runter!«, jault er und strampelt wie verrückt.
    »Blöder Hund.«
    Ich setze ihn unsanft oben auf den Stamm und klettere selbst hinauf. Dann springen wir beide auf der anderen Seite hinunter, Manchee bellt »Spring!«, während er schon weiterrennt.
    Dort, wo man über den Baumstamm springen muss, fängt der düstere Sumpf erst richtig an, und das Erste, was man sieht, sind die alten Hütten der Spackle, sie tauchen aus dem Halbdunkel auf und sehen aus wie geschmolzene Kugeln aus brauner Eiscreme, nur dass sie so groß sind wie eine Hütte. Niemand kann sich mehr daran erinnern, wozu sie einst gedient haben, aber die beste Erklärung hat Ben geliefert, der einfach für alles eine Erklärung parat hat. Er hat gesagt, es hat etwas damit zu tun, wie sie ihre Toten begraben. Vielleichtwaren die Hütten so etwas wie eine Kirche – obwohl die Spackle, soweit sich jemand in Prentisstown überhaupt daran erinnern kann, gar keine Religion hatten.
    Ich mache einen weiten Bogen um die Hütten und gehe in den kleinen Hain aus wilden Apfelbäumen. Die Äpfel sind reif, beinahe schon schwarz, Cillian würde sagen: einigermaßen essbar. Ich pflücke einen vom Ast und beiße hinein, der Saft läuft mir übers Kinn.
    »Todd?«
    »Was ist, Manchee?« Ich ziehe die Plastiktasche heraus, die ich zusammengefaltet in meiner hinteren Hosentasche mitgebracht habe, und fange an, sie mit Äpfeln zu füllen.
    »Todd?«, bellt er wieder, und diesmal fällt mir auf, wie verändert er meinen Namen bellt, und ich drehe mich um, und er schaut zu den Spackle-Häusern, mit gesträubtem

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