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Die Flucht

Titel: Die Flucht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patrick Ness
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meine Gehörnerven an und horche und horche und horche.
    »Ruhig! Ruhig!«, bellt Manchee zweimal ganz schnell hintereinander und rast auf die letzte Hütte zu. Ich laufe hinterher, fange an zu rennen, mein Puls trommelt, denn dort ist es, dort ist das Loch im Lärm.
    Ich kann es hören.
    Na ja, ich kann es nicht hören, das ist es ja gerade, aber als ich darauf zulaufe, klatscht die Leere gegen meine Brust und die Totenstille zerrt an mir, und es liegt so viel Ruhe, so viel Stille darin, eine so große, unglaubliche Stille, dass ich mich völlig zerschlagen fühle, so als wäre ich im Begriff, das Wertvollste, was ich besitze, zu verlieren, so als wäre er genau da vorn, der Tod. Ich fange an zu rennen und meine Augen tränen, und meine Lunge zerspringt, und niemand ist zu sehen, aber ich passe immer noch auf, und dann fangen meine Augen an zu tränen, meine scheißbescheuerten Augen, und ich bleibeeine Minute lang stehen und beuge mich vornüber, verdammt noch mal, halt jetzt bloß die Klappe, aber ich verplempere eine ganze blöde Minute, eine ganze stinkig blöde Minute, in der ich vornübergebeugt stehen bleibe, während sich das Loch fortbewegt und fortbewegt, bis es verschwunden ist.
    Manchee ist hin und her gerissen, er will dem Loch nachrennen, aber er will auch zu mir zurückkommen. Schließlich kommt er zu mir zurück.
    »Weinen, Todd?«
    »Halt die Schnauze«, sage ich und trete nach ihm. Ich trete daneben, absichtlich.

2
    Prentisstown
    Wir machen uns davon und schlagen den Rückweg zur Stadt ein. Die ganze Welt kommt mir schwarz und grau vor, egal was die Sonne sagt. Sogar Manchee sagt kaum etwas, als wir über die Felder laufen. Mein Lärm zischt und brodelt wie ein Eintopf auf der Herdplatte, bis ich schließlich für eine Minute stehen bleibe, um mich ein wenig zu beruhigen.
    Vollkommene Stille gibt es einfach nicht. Hier nicht und woanders nicht. Nicht, wenn man schläft, und nicht, wenn man wach ist, einfach nie.
    Ich bin Todd Hewitt, denke ich leise mit geschlossenen Augen. Ich bin zwölf Jahre und zwölf Monate alt. Ich lebe in Prentisstown in New World. In genau einem Monat werde ich ein Mann sein.
    Das ist ein Kniff, den mir Ben beigebracht hat, um meinen Lärm zu beruhigen. Man schließt die Augen, und dann sagt man so deutlich und so ruhig wie nur möglich zu sich selbst, wer man ist, denn das vergisst man in all dem Lärm.
    Ich bin Todd Hewitt.
    »Todd Hewitt«, murmelt Manchee leise, der neben mir hertrottet.
    Ich hole tief Luft und mache die Augen wieder auf. Genau der bin ich. Ich bin Todd Hewitt.
    Wir laufen bergauf, weg vom Sumpf und dem Fluss, den Hang mit den brachliegenden Feldern hinauf bis zu dem kleinen Hügel im Süden der Stadt, wo sich einst für kurze Zeit und völlig nutzloserweise die Schule befunden hat. Als ich noch nicht auf der Welt war, wurden die Jungen von ihren Müttern zu Hause unterrichtet, und später, als es nur noch Jungen und Männer gab, setzten wir uns vor den Videoapparat und schauten Unterrichtsstunden an, bis Bürgermeister Prentiss derlei als »unserer geistigen Disziplin abträglich« brandmarkte.
    Der Bürgermeister hat seine Grundsätze, wie man sieht.
    Deshalb sammelte der stets schwermütig dreinblickende Mr Royal fast ein albernes halbes Jahr lang alle Jungen regelmäßig ein und sperrte sie hier draußen in ein Nebengebäude, weit ab vom gröbsten Lärm der Stadt. Nicht dass es was geholfen hätte. Niemand kann in einem Klassenzimmer unterrichten, das voll vom Lärm der Jungen ist, und es ist völlig ausgeschlossen, irgendwelche Prüfungen abzuhalten. Die Schüler schummeln, selbst wenn sie’s gar nicht wollen, aber wer will schon nicht schummeln?
    Und dann hat Mr Prentiss eines Tages beschlossen, alle Bücher zu verbrennen, jedes einzelne Buch, sogar die Bücher, die die Leute zu Hause stehen hatten, denn offensichtlich waren Bücher ebenfalls schädlich, und Mr Royal, ein sanfter Mann, der einen harten Kerl aus sich machen wollte, indem er selbst im Klassenzimmer Whisky trank, gab auf, nahm eine Flinte und setzte seinem Leben ein Ende, und dann war’s vorbei mit meinem Schulunterricht.
    Alles Weitere hat mir Ben zu Hause beigebracht. Handwerken und Essen kochen und Kleider flicken, dazu die wichtigstenDinge, die ein Farmer wissen muss, und dergleichen mehr. Auch jede Menge zum Überleben in der Wildnis, übers Jagen zum Beispiel. Er hat mir beigebracht, welche Früchte genießbar sind, wie man anhand der Monde die Himmelsrichtung bestimmt, wie

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