Die Flüchtende
das Kostüm zu verschleißen. Es musste chemisch gereinigt werden, und das war ein nicht zu rechtfertigender Luxus.
Der Zug nach Stockholm Hauptbahnhof ging um 10.48 Uhr. Sie setzte sich auf eine Bank und wartete.
Im selben Moment , in dem sie an jenem Nachmittag über die
Schwelle trat, merkte sie, dass etwas nicht stimmte. Niemand erwiderte ihren Gruß.
Sie ging weiter in die Diele und sah den Rücken ihrer Mutter, die auf dem Sofa saß und las.
«Ich bin wieder da.»
Keine Antwort.
Sie bekam Herzklopfen.
Was hatte sie getan?
Sie hängte ihre Jacke auf und ging langsam ins Wohnzimmer. Obwohl sie das Gesicht ihrer Mutter nicht sehen konnte, wusste sie, wie diese in dem Moment dreinsah.
Böse.
Böse und enttäuscht.
Sibylla spürte den Kloß im Magen wachsen. Sie ging um das Sofa herum. Beatrice Forsenström hob nicht den Blick von ihrem Buch.
Sibylla nahm Anlauf.
«Was ist denn?», fragte sie leise.
Ihre Mutter antwortete nicht. Sie las weiter, so als ob Sibylla gar nicht im Zimmer wäre. Geschweige denn., sie angesprochen hätte.
«Warum bist du böse?»
Keine Antwort.
Der Kloß im Magen bereitete ihr Übelkeit. Wie hatte sie es erfahren? Wer hatte sie gesehen ? Sie war doch so vorsichtig gewesen!
Sie schluckte. °
«Was habe ich getan?»
Keine Reaktion. Beatrice Forsenström blätterte um. Sibylla sah den Teppich an. Das orientalische Muster zerfloss und sie versuchte, die Tränen auf den Boden tropfen zu lassen, damit sie auf ihren Wangen keine Spuren hinterließen. Ihr brummten die Ohren.
Scham.
Sie ging zurück in die Diele und stieg die Treppe hinauf. Sie wusste, was sie erwartete. Stunden der Unruhe in Erwartung der Explosion. Stunden der Schuld, der Scham, der Reue und des Verlangens danach, dass ihr verziehen werde. Lieber, gütiger Gott, mach, dass sie bald kommt und sagt, was los ist, damit ich um Verzeihung bitten kann. Aber lass sie nicht dahinter gekommen sein. Lieber, gütiger Gott, nimm mir das nicht weg!
Aber Gott ist nicht immer gütig. Als die Glocke unten zum Essen rief, hatte sich Beatrice Forsenström noch immer nicht in Sibyllas Zimmer sehen lassen.
Ihr war schlecht. Als sie die Bratkartoffeln roch, wollte sie sich übergeben.
Sie wusste, was sie erwartete. Sie würde bitten und betteln müssen, um zu erfahren, was sie falsch gemacht hatte.
Und wenn Beatrice Forsenström meinte, dass sie ausreichend gebettelt habe, dann würde sie es erfahren.
Auf der Uhr im Stockholmer Hauptbahnhof war es fünf vor halb eins, als sie zurückkam. Ein Schimpanse, der einige Jahre seines Lebens in Schweden verbracht hatte, war in seinem Tierpark in Thailand in einen zu kleinen Käfig gesperrt worden. Das hatte offenbar einen kleineren Proteststurm hervorgerufen, und deswegen hatte der Mord im Grand auf den Aushängen am Zeitungskiosk vorübergehend zurücktreten müssen. Sie fuhr mit der Rolltreppe nach oben, trat auf den Klarabergsviadukten hinaus und ging in Richtung Sergels Torg. Normalerweise verbrachte sie viel Zeit im Lesesaal des Kulturhauses, aber heute hatte sie keine Lust, Zeitungen zu lesen.
Affen hatten sie eigentlich noch nie interessiert, und mit dem Mord im Grand wollte sie am liebsten so wenig wie möglich zu tun haben. Trotzdem fand sie sich eine Weile später auf einer Bank an der Strömkaje wieder. Den Rücken zum Wasser und die Fassade des Grand direkt vor der Nase.
Die Absperrungen waren weg. Es sah genauso aus wie drei Tage zuvor, als sie nichts Böses ahnend durch die Türen gegangen war. Vor dem Hotel parkte eine Limousine, und der Pförtner und der Chauffeur standen da und unterhielten sich miteinander.
«Da sitzt du also und sinnst über deine Sünden nach.»
Sie fuhr zusammen, als ob jemand sie geschlagen hätte. Hinter ihr stand Heino mit seiner gesamten Habe im Schlepp. Irgendwo unter all den Plastiktüten mit leeren Dosen, wusste sie, versteckte sich ein rotbrauner Kinderwagen, sie war selbst dabeigewesen, als er ihn sich besorgt hatte, aber alles, was man im Moment davon sah, waren die Räder.
«Mensch, hast du mich erschreckt!»
Er grinste leicht und setzte sich neben sie. Der Mief nach altem Schmutz siegte sofort über alle anderen Gerüche in der Umgebung. Sie rückte ein wenig von ihm ab, doch nur so viel, dass er es nicht merkte.
Er sah zur Fassade des Grand Hotel hinauf.
«Bist du das gewesen, die das getan hat?»
Sibylla sah ihn an. Das Gerücht verbreitete sich schnell. Sie konnte sich nämlich nicht vorstellen, dass Heino selber Zeitung
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