Die Flüchtende
leise.
Er sah sie an.
«Ah ja. Forsenströms Tochter. Bist du das?»
«Ja.»
Er war in die Tullgatan eingebogen. Bald würden sie an der Imbissbude vorbeikommen.
«Hör mal? Läuft doch toll, oder?»
Sibylla nickte. Wirklich toll. Ungefähr so wie Gun-Britts Renault.
Wie immer waren an der Imbissbude eine Menge Leute. Sibylla duckte sich, als sie dort vorbeifuhren.
«Das sind doch deine Kumpel, oder?»
Sie erwiderte zuerst nichts darauf. Er warf ihr einen Blick zu und fuhr fort:
«Ich meine, weil sie immer an deiner Bude herumhängen.»
Er lachte über seinen Witz. Sibylla nicht. Als er ihre Reaktion bemerkte, versuchte er wieder ernst zu sein.
«Das war doch nur ein Scherz, verstehst du. Komm schon!»
Sie sah ihn an. Es war wirklich nur ein Scherz gewesen. Er hatte sich nicht auf ihre Kosten lustig gemacht. Der Unterschied war ganz deutlich. Sie verzog den Mund zu einem kleinen Lächeln.
«Nein. Das sind nicht meine Kumpel.»
Sie hatten bei diesem ersten Mal nicht viel mehr gesagt. Er hatte sie zum VMIJ-Hof zurückgebracht und sie hatte sich für die Fahrt bedankt. Sie stieg aus und er zog an einem Hebel, um die Motorhaube wieder aufzumachen.
Als sie ein Stück weit entfernt war, drehte sie sich nach ihm um. Er hatte den Kopf schon wieder über den Motor gebeugt.
Innerlich fühlte sie sich jetzt anders. Erwartungsvoll. Sie war sich beinahe sicher, dass es etwas Wichtiges war, was sie erlebt hatte. Etwas Gutes. Etwas, was Bedeutung bekommen würde.
Und das sollte es auch.
Sie konnte allerdings nicht wissen, was geschehen wäre, wenn dieses Auto nicht an ebendiesem Tag geliefert worden wäre, wenn der Lack nur eine Stunde später getrocknet wäre, wenn Micke noch nicht draußen gewesen wäre und angefangen hätte, daran herumzubasteln, wenn sie in eine andere Richtung gegangen wäre, wenn, wenn, wenn ...
Ihr Leben wäre dann ganz anders verlaufen.
An ebendiesem Nachmittag war sie an einen dieser bedeutenden Scheidewege gelangt, aus denen das Leben bestand. Man wusste aber immer erst viel später, dass man sie passiert hatte.
Und sie musste noch ein beträchtliches Stück weitergehen, bevor ihr das aufging.
Erst als alles schon längst zu spät war, sollte sie einsehen, dass sie an ebendiesem Nachmittag die verkehrte Richtung eingeschlagen hatte.
Sie schlief in dieser Nacht vor der Dachbodentür eines Mietshauses. Zunächst einmal hatte sie sich ein gutes Stück von Lena Grundbergs entzückender Villengegend entfernt, in Richtung Zentrum. Die Eingangstür war nicht abgeschlossen gewesen. Einer der größten Vorteile, wenn man Stockholm verließ. Dort musste man sich an bekannte Adressen halten, an Eingänge, wo man den Dreh heraushatte.
Ein schreiendes Kind weiter unten im Treppenhaus weckte sie. Sie hörte eine Tür aufgehen und eine gereizte Frauenstimme klarstellen, dass sie es gern auch lassen könnten hinauszugehen, wenn er nur so plärren würde. Die Haustür schlug zu und es war wieder still. Sibylla sah auf die Uhr. Die stand immer noch. Uhren waren teuer, aber sie brauchte wirklich eine neue.
Als sie sich von ihrer Isomatte erhob, wurde ihr schwarz vor Augen und sie musste sich eine Weile an der Wand abstützen, bis der Schwindel sich legte.
Sie brauchte etwas zu essen.
Der Bahnhof war nur ein paar Häuserblocks von ihrer Nachtherberge entfernt. Sie ging auf die Damentoilette und machte sich frisch, schminkte sich Augen und Lippen und kämmte sich durchs Haar. Das grüne Kostüm war knittrig geworden im Ruck-sack, das war nicht zu ändern. Ohne das Kostüm würde es kein Frühstück geben. Als sie es anhatte, befeuchtete sie sich die Hände und strich damit über den Stoff. Auf diese Weise ließen sich normalerweise die schlimmsten Falten glätten.
Den Rucksack gab sie bei der Gepäckaufbewahrung ab. Woher sie die Mittel nehmen würde, um ihn wieder auszulösen, war eine Frage für später.
Jetzt ging es darum, etwas zu essen.
Sie trat aus der Bahnhofstür und blieb auf der Treppe stehen. Ein Stück vom Bahnhof entfernt lag das City Hotel. Sie beschleunigte ihren Schritt und schwebte ins Foyer. Sofort tauchte hinter der Theke aus einem angrenzenden Raum ein Mann auf und sie trat auf ihn zu.
«Puh, wie kalt es heute ist», sagte sie bibbernd.
Er lächelte sie an. Auf seinem vergoldeten Namensschild stand Henrik.
«Ich war nur mal eben am Bahnhof drüben, um nach den Abfahrtszeiten zu sehen, aber ich hätte mir wohl meine Jacke anziehen sollen.»
« Das nächste Mal können Sie
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