Die Flüchtende
Mann ?»
«Gar nicht.»
Die Frau lächelte plötzlich, aber in ihrem Lächeln lag keine Freundlichkeit. Sibylla spürte, wie der Schrecken gekrochen kam. Hatte sie sie erkannt? Hatte die Polizei Rune Hedlunds Frau über die Verbindung zu den Organspenden informiert und vorgewarnt? Hatte man sie gebeten, nach ihr Ausschau zu halten? Um einen Zusammenhang zwischen Sibylla Forsenström und Rune Hedlund herstellen und auf diese Weise endlich ein Motiv finden zu können?
Sibylla sah sich um. Womöglich waren sie schon da?
«Glauben Sie denn, dass es mir nicht längst klar geworden ist?»
Da Sibylla nicht antwortete, fuhr die Frau fort.
«Schon als Ihre Blumen zur Beerdigung kamen, war mir klar, dass etwas nicht stimmte.»
Sie schnaubte.
«Welche Sorte Mensch schickt schon anonym einen Strauß roter Rosen zu einer Beerdigung? Was glaubten Sie damit zu gewinnen? Was? Glauben Sie, Rune hätte sich gefreut?»
Die Verachtung im Blick der Frau war so stark, das Sibylla die Augen niederschlagen musste.
«Wenn er sich wirklich für Sie entschieden hätte, dann hätte er es zu Lebzeiten getan. Er ist aber bei mir geblieben. Nicht wahr? Mussten Sie mich also deshalb mit all den Blumen demütigen?»
Sibylla sah sie wieder an. Rune Hedlunds Frau schüttelte den Kopf, als wollte sie ihren Abscheu anschaulich machen.
«Jeden Freitag, Woche für Woche, eine neue verflixte Rose auf diesem Grab. Um mich zu bestrafen? Dafür, dass ich es war, die ihn schließlich bekommen hat?»
Ihr versagte die Stimme, aber Sibylla konnte sehen, dass sich noch mehr Worte auf ihrer Zunge drängten. Worte, die schon lange dort gelegen und darauf gewartet hatten, herausgelassen zu werden.
Sibylla war ganz benommen. Sie hatte sich getäuscht. Diese Frau war gefragt worden. Sie war eine der so genannten Angehörigen, die ihre Einwilligung erteilen mussten. Es gab da draußen also noch eine Person, die, bitter und verlassen, das zurückhaben wollte, was sie verloren hatte.
«Hat die Polizei bei Ihnen angerufen?», fragte sie.
Sie musste es in Erfahrung bringen.
«Wie? Die Polizei. Warum sollte sie?»
Rune Hedlunds Witwe tat einen Schritt nach vorn. Ging in die Hocke und drückte zwischen den Krokussen, die sich erschrocken zur Seite neigten, die Spitze der Vase in die Erde.
Sibylla betrachtete ihren Rücken. Er hob und senkte sich im Takt der Atemzüge. Sibylla ahnte, dass die Frau sich nach diesem
Moment gesehnt hatte. Dass sie genau einstudiert hatte, was sie an dem Tag, an dem sie der unbekannten Geliebten ihres Mannes gegenüberstünde, sagen würde.
Und nun hatte sie ihr Pulver umsonst verschossen.
Sie wusste nicht, dass die Frau, mit der sie eigentlich hätte sprechen müssen, Schlimmeres getan hatte, als ein paar Blumen auf das Grab ihres Geliebten zu legen, aber Sibylla wollte nicht diejenige sein, die ihr diese Nachricht überbrachte.
Rune Hedlunds Gattin erhob sich wieder, und als sie Sibylla ansah, standen ihr Tränen in den Augen.
«Sie sind krank, wissen Sie das?»
Sie antwortete nicht. Die Verachtung, die aus den Augen der anderen Frau blitzte, war nahezu physisch. Sie erweckte alte Erinnerungen zum Leben und Sibylla senkte den Blick, um davor verschont zu bleiben.
«Nicht einmal im Tod können Sie ihn in Frieden lassen.»
Sibylla sah wieder auf. Die Frau hatte sich umgedreht und ging davon.
Sie blieb stehen und sah ihr nach.
Und mit einem Schlag wurde ihr klar, dass Rune Hedlunds Witwe sich gar nicht bewusst war, wie Recht sie hatte.
Sie blieb auf dem Friedhof sitzen. Sie hatte sich eine Bank U ausgesucht, die ein gutes Stück von Rune Hedlunds Grabstein entfernt war, den sie von diesem Ausguck aus aber trotzdem ganz deutlich sah. Der gelbe Tulpenstrauß leuchtete in seiner Plastikvase wie ein Ausrufezeichen.
An diesem Tag wollten nicht sonderlich viele die Gräber ihrer Angehörigen besuchen, und die wenigen, die auftauchten, waren entweder zu alt oder kamen als Paare.
Sie hatte es jedoch nicht eilig.
Sie würde hier sitzen, bis die Frau auftauchte. Früher oder später würde sie kommen.
Als die Nacht hereinbrach, holte sie die Isomatte und den Rucksack hervor. Gleich hinter dem Urnenhain verlief eine Steinmauer und davor befand sich ein Gebüsch, in dem sie ihren Rucksack versteckt hatte. Trotz der kahlen Zweige würde sie in der Nacht ausreichend geschützt liegen. Nicht dass sie glaubte, so spät würde noch jemand auftauchen, aber die Person, auf die sie wartete, war schon früher für Überraschungen gut
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