Die Flüchtende
zu sammeln.
Sie setzte sich an den Tisch, der so weit wie möglich vom Fenster entfernt war, und versuchte sich zu beruhigen.
So knapp am Auge vorbei war es definitiv noch nie gegangen, seit sie sich ihre Hotelnächte gönnte. Das Grand konnte sie füreinige Zeit vergessen. Sie konnte nicht begreifen, wie Grundberg ihr auf die Schliche gekommen war. Hatte jemand vom Personal sie erkannt und ihn auf seinem Zimmer angerufen? Warum hatte er sie dann die ganze Nacht über bleiben lassen? Sie würde es nie erfahren und das war auch egal.
Sie sah sich um.
Um sie herum saßen Leute und frühstückten, und sie wünschte, sie hätte etwas Geld gehabt.
Erst jetzt spürte sie, dass ihr Hals schmerzte. Ob sie auch leichtes Fieber hatte? Sie legte die Hand auf die Stirn. Schwer zu sagen.
Sie schaute auf die Uhr, um nach dem Datum zu sehen. Die Uhr war wieder stehen geblieben. Sie trug sie am Arm, seit sie vor siebzehn Jahren konfirmiert worden war. Ein Geschenk von Mutter und Vater. Für Glück und Wohlergehen im Leben.
Jaja.
Dabei war sie jetzt doch verhältnismäßig glücklich. Jetzt, da sie beschlossen hatte, aus ihrem kläglichen Leben etwas zu machen, und ihr allmählich klar wurde, dass sie es tatsächlich schaffen würde. Sie war jedenfalls um einiges glücklicher als in der Zeit als wohlerzogene Direktorentochter. Mit der Wohlerzogenheit hatte sie als Erstes Schluss gemacht, obwohl sie damals gar nicht richtig begriffen hatte, wie dies zugegangen war. Als auch ihre anderen Mängel offenbar wurden, war es in dem gesitteten Herrenhaus mit der Geduld zu Ende gewesen und sie hatte auch damit Schluss machen müssen, Direktorentochter zu sein.
Jeden Monat aber, jahraus, jahrein, war in einem Postfach in der Drottninggatan ein weißes Kuvert ohne Absender eingetroffen. Und es enthielt jeden Monat genau eintausendfünfhundert Kronen.
Nie ein Wort oder eine Frage, wie sie zurechtkomme. Ihre Mutter bezahlte ihr schlechtes Gewissen ab, genauso wie sie es mit den Kindern in Biafra machte.
Ihr Vater wusste mit größter Wahrscheinlichkeit nichts von der Sache.
Die Miete für das Postfach betrug zweiundsechzig Kronen. Im Monat.
Eine junge Kellnerin mit einem Ring durch die Nase kam an ihren Tisch und fragte, ob sie etwas bestellen wolle. Wenn sie Geld gehabt hätte, gern. Sie schüttelte den Kopf und erhob sich, trat auf die Bibliotheksgatan hinaus und spazierte in Richtung Centralen, dem Hauptbahnhof. Sie musste sich umziehen.
Sie war halb über dem Norrmalmstorg, als sie ihn entdeckte: einen knallgelben Aushang mit fetten schwarzen Lettern. Sie musste ihn dreimal lesen, bevor sie richtig begriff, was da stand. Extra.
Bestialischer Mord im Grand Hotel heute Nacht.
TT Stockholm
Gestern am späten Abend wurde im Grand Hotel im Zentrum von Stockholm ein Mann auf seinem Hotelzimmer ermordet. Der Mann, der aus einer mittelschwedischen Stadt stammte, befand sich auf Geschäftsreise und hatte die beiden letzten Nächte in dem Hotel verbracht. Dem Personal des GraWzufolge wollte er Stockholm im Laufe des Freitags verlassen. Die Polizei hält sich mit genaueren Angaben über den Mord sehr zurück, gibt aber bekannt, dass die Leiche kurz nach Mitternacht vom Personal entdeckt worden sei, nachdem einem Gast im Hotelflur vor dem Zimmer des Ermordeten Blutflecken aufgefallen waren und er Alarm geschlagen hatte. Nach Angaben der Polizei ist die Leiche geschändet worden. Die Polizei hat noch keine Spur von dem Mörder, hofft aber, dass die Verhöre mit dem Personal und den übrigen Gästen des Grand Klarheit über den Tathergang bringen werden. Bei Drucklegung war die Untersuchung des Tatorts noch nicht abgeschlossen, und das Grand Hotel bleibt bis auf weiteres abgesperrt. Die Leiche wird im Laufe des Vormittags in Solna am gerichtsmedizinischen Institut obduziert werden. Die Verhöre mit dem Personal und den übrigen Gästen werden voraussichtlich den ganzen Tag andauern, danach soll die Absperrung aufgehoben werden.
Das war alles.
Ein ganzseitiges Bild zeigte das Grand Hotel, und der Rest des Artikels handelte von anderen Morden mit Leichenschändung, die in den vergangenen zehn Jahren in Schweden begangen worden waren, allesamt mit Bild, Alter und Namen der Opfer illustriert.
Deshalb also hatten sie an ihrer Tür geklopft. Sie war mehr als dankbar, dass sie entkommen war. Wie hätte sie schließlich ihre Anwesenheit in einem der teuersten Hotels von Stockholm erklären sollen? Sie, die nicht einmal so viel besaß, dass es
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