Die Flüchtende
recht. Über den Mord selbst hat sie nichts gesagt. Sie hat erzählt, dass er Krebs hatte und vor ungefähr einem Jahr operiert wurde.»
Patrik schaute enttäuscht drein.
« Du solltest doch nach dem Mord fragen!»
«Das war nicht so einfach.»
Sie schwiegen eine Weile. Patrik holte seine Zettel hervor undging sie noch einmal durch. Auf die Rückseite des Bildes von der Wand hatte er mit Bleistift etwas notiert.
«Was ist das?»
«In ihrer Handtasche steckte eine Plastikmappe mit seiner Krankengeschichte. Ich habe ein bisschen was abgeschrieben.»
Sie starrte ihn entgeistert an.
«Du hast in ihrer Handtasche gewühlt?»
«Ja. Wie soll man sonst was erfahren?»
Sie schüttelte den Kopf und eine Befürchtung stieg in ihr auf.
«Du hast hoffentlich nichts geklaut?»
Er glotzte sie an.
«Doch. Vier Millionen.»
Sie schnitt ihm eine Grimasse und streckte sich nach seinen Notizen. In dem Moment, als sie das Blatt ergreifen wollte, zog er es zurück.
«Warum hast du so viel Geld?»
«Wieso?»
«Warum haust du auf dem Dachboden einer Schule, wenn du lauter Tausender um den Hals hängen hast?»
«Das ist doch wohl meine Sache.»
Zuerst kümmerte sie sich nicht darum, dass er sauer wurde. Er verschränkte die Arme und wandte sich demonstrativ von ihr ab. Sie sah aus dem Fenster und der Bus fuhr schon durch Söderköping, als ihr endlich klar wurde, dass sie ihm eine Erklärung schuldig war.
«Ich habe es gespart», sagte sie, den Blick weiterhin aus dem Fenster gerichtet.
Er sah sie an.
Sie erzählte von ihrem Traum, von dem Haus, das ihr ein neues Leben ermöglichen sollte, und von dem regelmäßigen Almosen ihrer Mutter, das ihr jetzt entzogen worden war. Er hörte interessiert zu, und als sie fertig war, hielt er ihr das Blatt hin.
«Bitte sehr.»
Er hatte fleißig Notizen gemacht. Daten von Krankenhausaufenthalten und Operationen. Sie übersprang eine Menge unverständlicher Ausdrücke und Abkürzungen, plötzlich aber erkannte sie ein Wort wieder, das sie irgendwo schon einmal gehört hatte: Sandimmun Neoral.
Irgendjemand hatte das kürzlich ihr gegenüber erwähnt. Oder hatte sie es irgendwo gelesen?
Patrik bemerkte ihre Reaktion.
«Was ist denn?»
Sie schüttelte nachdenklich den Kopf.
«Ich weiß nicht.»
Sie zeigte auf seine Notizen.
« Das hier, Sandimmun Neoral fünfzig Milligramm. Ich frage mich, woher ich das kenne.»
Patrik las.
«Das scheint irgendein Medikament zu sein. Wofür nimmt man das ein?»
«Keine Ahnung.»
«Fiddes Mutter ist Ärztin. Die kann ich mal fragen.»
Ja, natürlich. Frag du nur Fiddes Mutter, wofür man Sandimmun Neoral einnimmt. So etwas fragen sich Fünfzehnjährige doch eigentlich fast täglich.
Sie lächelte ihn an. Sie hätte gern seine Hand genommen, traute sich aber nicht.
«Patrik.»
« Mmm.»
« Danke für deine Hilfe.»
Er wurde ein wenig verlegen.
«Ach was. Hat doch noch nix genutzt.»
Sie lächelte noch mehr.
«Doch, doch. Hat es durchaus.» Die nächste Nacht verbrachte sie auf dem Dachboden in Pa
triks Mietshaus. Er hatte sie eingelassen, und sie rollte in einem ungenutzten Bodenraum ihre Isomatte aus.
Sie hatte Mühe, zur Ruhe zu kommen. Patrik hatte ihr ein paar belegte Brote gebracht, folglich lag es nicht am Hunger. Eher daran, dass sie von Erlebnissen übersättigt war. Gedanken und Bilder blitzten ihr hinter den Lidern auf, und bevor sie endlich einschlief, hatte sie stundenlang wach gelegen.
Sobald sie am Sonntagmorgen die Augen aufschlug, wusste sie, woher sie Sandimmun Neoral kannte. Ihr Gehirn hatte diese wichtige Information im Schlaf heraussortiert.
Jörgen Grundberg.
Der Name des Medikaments hatte auf der Arzneipackung gestanden, die er nach Beendigung seines Mahls im Grand Hotel aus der Tasche gezogen hatte. Vor lauter Eifer setzte sie sich auf.
Konnte das wirklich ein Zufall sein? Dass zwei Opfer des Mörders das gleiche Medikament einnahmen?
Sie war nun hellwach und musste unbedingt aufstehen. Ungeduldig trat sie in den Flur des Dachbodens und ging zu dem einzigen Fensterchen. Draußen war es hell. Wie spät es wohl war? Wie lange würde es dauern, bis Patrik käme?
Sie musste mehrere Stunden warten.
Währenddessen wurde ihr der Effekt dieses unerwarteten Erfolgs bewusst. In ihr war der Antrieb weiterzumachen, den sie schon ein für alle Mal verloren geglaubt hatte, zu neuem Leben erwacht. Sie wollte sich aufs Neue weigern aufzugeben.
Als sie endlich die schwere Metalltür aufgehen hörte und Patrik rief,
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