Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Flusswelt Der Zeit

Die Flusswelt Der Zeit

Titel: Die Flusswelt Der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: authors_sort
Vom Netzwerk:
Wer käme schon sonst auf den Gedanken, sie mit Kaugummi zu versorgen?
    Nachdem er die Zigarre auf dem Boden ausgedrückt hatte, schob Burton das Plättchen in den Mund und sagte: »Es schmeckt komisch, aber irgendwie delikat. Haben Sie es auch schon versucht?«
    »Ich habe mit dem Gedanken gespielt«, erwiderte Alice, »aber dann kam es mir doch zu dumm vor. Diese Kaubewegungen erinnern mich an eine Kuh, die wiederkäut.«
    »Sie sollten vergessen, daß Sie eine Lady sind«, meinte Burton. »Glauben Sie etwa, daß Wesen, die in der Lage sind, Sie erneut zum Leben zu erwecken, über einen vulgären Geschmack verfügen könnten?«
    Alice lächelte sanft und sagte: »Woher soll ich das wissen?« Dann steckte auch sie den Gummistreifen in den Mund. Einen Moment lang kauten sie beide vor sich hin und sahen sich über das Feuer hinweg schweigend an. Offenbar getraute sie sich nicht, Burton länger als einige Sekunden in die Augen zu sehen.
    Burton sagte plötzlich: »Frigate erwähnte, daß Sie ihm bekannt seien. Daß er von Ihnen gehört habe. Würden Sie mir sagen, wer Sie sind, und mir gleichzeitig meine unverzeihliche Neugier vergeben?«
    »Es gibt unter den Toten keine Geheimnisse«, erwiderte Alice einfach.
    »Ebenso wenig wie unter den ehemals Toten.«
    Alice Pleasance Liddell wurde am 25. April 1852 geboren (Burton war damals dreißig gewesen). Sie stammte in direkter Linie von König Edward III. und seinem Sohn, John of Gaunt, ab. Ihr Vater war der Dekan des Christ Church College von Oxford gewesen und nebenbei der Ko-Autor eines bekannten Griechisch-Englischen Lexikons. (Liddell und Scott! dachte Burton). Sie hatte eine glückliche Jugend verlebt, eine exzellente Erziehung genossen und viele prominente Menschen ihrer Zeit kennen gelernt: Gladstone, Matthew Arnold, den Prinzen von Wales, der bei ihrem Vater in Oxford studiert hatte.
    Ihr Ehemann, den sie sehr geliebt hatte, war Reginald Gervis Hargreaves gewesen, ein Landedelmann, dem nichts über Jagen, Fischen, Kricketspielen, die Forstwirtschaft und französische Literatur gegangen war. Sie hatte drei Söhnen das Leben geschenkt, von denen es jeder zum Rang eines Captains gebracht hatte. Zwei davon waren im Großen Krieg von 1914 bis 1918 gefallen.
    (Es war nun das zweite Mal, daß Burton etwas von diesem Großen Krieg hörte).
    Und sie unterhielt ihn weiter, als hätte der Genuß von Alkohol ihre Zunge gelöst oder als beabsichtige sie, zwischen Burton und sich eine Barriere aus Konversation zu errichten.
    Sie sprach von Dinah, dem anschmiegsamen Kätzchen, das sie als Kind geliebt hatte, den gewaltigen Bäumen auf dem Besitz ihres Mannes; wie ihr Vater, jedes Mal wenn er an seinem Lexikon arbeitete, um Punkt zwölf Uhr zu niesen anfing, ohne daß man jemals herausfand, warum er das tat… Als sie achtzig geworden war, hatte die amerikanische Columbia-Universität Alice für die tragende Rolle, die sie in dem weltbekannten Buch eines gewissen Mr. Dodgson gespielt hatte, die Ehrendoktorwürde in Literatur verliehen. (Auf den Titel des Buches ging sie nicht ein, und Burton, der in seinem Leben viel gelesen hatte, erinnerte sich an kein einziges Werk eines Mr. Dodgson).
    »Es war wirklich ein herrlicher Nachmittag«, fuhr Alice fort, »auch wenn der Wetterbericht etwas ganz anderes vorhergesagt hatte. Am 4. Juli 1862 war ich zehn Jahre alt… Meine Schwestern und ich trugen schwarzes Schuhwerk, weiße Söckchen, ebensolche Baumwollkleider und breitkrempige Hüte.«
    Ihr Blick weitete sich, und ihre Schultern zitterten, als stünde sie irgendeinen inneren Kampf aus. Dann begann sie noch schneller zu sprechen.
    »Mr. Dodgson und Mr. Duckworth trugen die Picknickkörbe… Wir stiegen in unser Boot und fuhren von Folly Bridge stromaufwärts die Isis hinauf. Mr.
    Duckworth ruderte keuchend; die Tropfen fielen wie gläserne Tränen von den Rudern auf die spiegelglatte Oberfläche des Flusses, und…«
    Die letzten Worte – so empfand es Burton jedenfalls – schien sie geschrieen zu haben. Verwundert sah er Alice an, deren Lippen sich bewegten, als spräche sie in einem ganz normalen Tonfall zu ihm. Ihr Blick war jetzt auf ihn gerichtet, aber der Ausdruck ihrer Augen erweckte in ihm den Eindruck, als schaue sie durch ihn hindurch in die Unendlichkeit. Sie hatte die Arme halb erhoben, als sei sie in Überraschung erstarrt und könne sie nicht länger bewegen.
    Die Geräusche hatten sich verstärkt. Burton konnte das kleine Mädchen atmen hören, hörte den Schlag

Weitere Kostenlose Bücher