Die Flusswelt Der Zeit
keinerlei Rücksicht darauf nahm, ob gerade jemand in der Nähe war, wenn sie dem armen Lev ihre Ansichten aufdrängte, war überall zu hören gewesen.
Schließlich hatte Lev eines Tages, als die zum Auslaufen bereit war, einen Riesensprung an Bord gemacht, sich umgedreht und gesagt: »Lebewohl, Tanya.
Ich kann es einfach nicht mehr länger mit einer Großschnauze aus der Bronx aushalten. Such dir einen anderen, möglichst einen, der in deinem Sinne perfekt ist.«
Tanya hatte geschluckt, war blaß geworden, und dann ging ihre Stimme in einem hohen Kreischen über. Sie hatte noch gekeift, als die bereits munter flußaufwärts fuhr und längst außer Hörweite war. Die Mannschaft hatte gelacht und Lev gratuliert, der lediglich traurig lächelte. Zwei Wochen später war er dann in einem Gebiet, in dem sich vorwiegend Libyer aufhielten, auf Esther, eine dem fünfzehnten Jahrhundert entstammende sephardische Jüdin gestoßen.
»Warum versuchst du dein Glück nicht mal mit einer Nichtjüdin?« hatte Frigate ihn gefragt.
Lev zuckte die mageren Schultern. »Das habe ich schon. Aber früher oder später gerät man immer wieder in einen Riesenkrach hinein, und sie verlieren ihre gute Erziehung und nennen einen Judenlümmel. Nicht daß das jüdische Frauen nicht auch täten, aber bei denen macht mir das eben weniger aus.«
»Paß auf, mein Freund«, sagte Frigate. »An den Ufern dieses Flusses leben Milliarden von Nichtjuden, die nie im Leben etwas von einem Juden gehört haben. Die können dich nicht beleidigen. Du solltest da wirklich mal dein Glück versuchen.«
»Ich bin nun mal vernarrt in die Gemeinheiten, die ich kenne.«
»Du willst sagen, du bist geradezu erpicht drauf«, erwiderte Frigate.
Manchmal fragte sich Burton, warum Ruach überhaupt bei ihnen auf dem Boot blieb. Er hatte nie wieder eine Anspielung auf sein Buch Der Jude, der Zigeuner und der Islam gemacht, obwohl er Burton ein paar Mal nach gewissen anderen Aspekten seiner Vergangenheit fragte. Er war nicht übertrieben freundlich, aber auch nicht direkt reserviert. Trotz seiner kleinen Gestalt war Ruach ein wertvoller Mitstreiter, besonders in Kampftechniken wie Judo, Karate und Jukado, wovon er auch Burton ein paar Tricks beibringen konnte.
Seine Traurigkeit, die ihn umgab wie eine Nebelwolke und nicht einmal von ihm wich, wenn er lachte oder liebte – wie Tanya behauptet hatte –, rührte von Narben her, die tief in seinen Geist eingeprägt waren. Und diese waren Erinnerungen an die Konzentrationslager der Faschisten. Tanya hatte einmal behauptet, Lev sei bereits traurig geboren worden; in ihm vereinigten sich alle Sorgen seiner babylonischen Vorfahren.
Monat war ein anderer trauriger Fall, auch wenn er seinen Gemütszustand dann und wann überspielen konnte. Ihn beschäftigte in der Hauptsache die Frage nach dem Verbleiben der dreißig anderen männlichen und weiblichen Besatzungsmitglieder seines Raumschiffes, die der Mob gelyncht hatte. Er rechnete sich keine große Chance aus, einen von ihnen zu finden. An diesem Fluß lebten schätzungsweise fünfunddreißig oder sechsunddreißig Milliarden Menschen – und aus ihren Reihen dreißig bestimmte Gestalten herauszufinden, war nahezu ein Ding der Unmöglichkeit. Dennoch gab er die Hoffnung nicht auf.
Alice Hargreaves saß ebenfalls auf dem Vordeck. Sie tauchte nur gelegentlich auf, und zwar immer dann, wenn das Boot dem Ufer nahe genug kam, daß man an Land individuelle Gesichter ausmachen konnte. Sie suchte nach Reginald, ihrem Ehemann, ihren drei Söhnen und nach ihren Eltern und Geschwistern. Für Burton war es klar, daß sie, sobald sie auf einen der Gesuchten stieß, das Boot verlassen würde. Zwar hatte er sie deswegen noch nicht angesprochen, aber allein der Gedanke daran erzeugte Schmerzen in seiner Brust. Einerseits wünschte er sich, daß sie ging. Andererseits aber wieder auch nicht.
Möglicherweise würde Alice – befand sie sich erst einmal außerhalb seines Blickfeldes – auch aus seinem Bewußtsein verschwinden. Burton wußte, daß dies unvermeidlich war, aber er wollte es nicht darauf ankommen lassen. Die Gefühle, die er Alice gegenüber hegte, waren die gleichen, die er einst seiner persischen Geliebten entgegengebracht hatte. Sie zu verlieren, bedeutete den Neubeginn einer lebenslangen Folter seines Gemüts.
Trotzdem hatte er Alice bisher nicht gesagt, was er für sie empfand. Sicher, sie hatten miteinander geredet und gescherzt. Die Beziehung zwischen ihnen hatte sich
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