Löcher: Die Geheimnisse von Green Lake (Gulliver) (German Edition)
1
Das hier nennt sich zwar Camp Green Lake, aber einen See gibt es gar nicht. Früher gab es mal einen ganz großen, den größten See in Texas, aber das ist schon über hundert Jahre her. Jetzt ist hier alles flach und trocken, eine einzige Wüste.
Es gab auch mal eine Stadt, die Green Lake hieß, aber die ist gleichzeitig mit dem See immer mehr zusammengeschrumpft und ausgetrocknet, genauso wie die Leute, die da wohnten.
Im Sommer liegt die Temperatur tagsüber bei 35 Grad im Schatten – vorausgesetzt, man findet irgendwo Schatten. Viel gibt es davon nicht an einem großen, ausgetrockneten See.
Die einzigen Bäume sind zwei alte Eichen am Ostufer des »Sees«. Dazwischen ist eine Hängematte gespannt und dahinter steht eine Blockhütte.
Den Bewohnern des Camps ist es verboten, sich in die Hängematte zu legen. Sie gehört nämlich dem Boss. Der Schatten ist ganz allein für den Boss.
Draußen am See suchen Klapperschlangen und Skorpione Schatten unter Felsen und in den Löchern, die die Bewohner des Camps gegraben haben. Was die Klapperschlangen und Skorpione angeht, sollte man sich eine wichtige Regel merken: Lass sie in Ruhe, dann lassen sie dich auch in Ruhe.
Normalerweise.
Von einem Skorpion oder sogar von einer Klapperschlange gebissen zu werden ist nicht das Schlimmste, was dir passieren kann. Daran stirbst du nicht.
Normalerweise.
Manchmal kommt es vor, dass einer der Jungs hier es darauf anlegt, von einem Skorpion gebissen zu werden, vielleicht sogar von einer kleinen Klapperschlange. Dann darf er sich ein oder zwei Tage in seinem Zelt ausruhen und muss kein Loch graben draußen auf dem See.
Aber keiner würde sich freiwillig von einer gelb gefleckten Eidechse beißen lassen. Das ist das Schlimmste, was einem passieren kann. Dann stirbt man einen langsamen, qualvollen Tod.
Immer.
Wenn du von einer gelb gefleckten Eidechse gebissen wirst, dann kannst du geradeso gut hinüber in den Schatten der Eichen gehen und dich in die Hängematte legen.
Dann kann dir nämlich keiner mehr was.
2
Jetzt fragt sich der Leser vermutlich: Aus welchem Grund sollte irgendjemand auf die Idee verfallen, nach Camp Green Lake zu kommen?
Die Antwort ist: Die meisten Bewohner hatten gar keine andere Wahl. Camp Green Lake ist eine Anstalt für schwere Jungs.
Nimm einen von ihnen und lass ihn Tag für Tag in brütender Hitze ein Loch graben, und du kannst sicher sein, dass ein guter Junge aus ihm wird.
Jedenfalls glaubten das einige Leute.
Stanley Yelnats hatte sogar die freie Wahl. Der Richter sagte: »Du kannst es dir aussuchen – entweder du gehst ins Gefängnis oder du kommst nach Camp Green Lake.
Stanley kam aus einer armen Familie. Er war noch nie im Leben in einem Feriencamp gewesen.
3
Stanley Yelnats war der einzige Fahrgast im Bus, wenn man den Fahrer und den Wachmann nicht mitrechnete. Der Wachmann saß neben dem Fahrer auf einem umgedrehten Sitz, so dass er Stanley im Blick hatte. Auf seinen Knien lag ein Gewehr.
Stanley saß ungefähr zehn Reihen weiter hinten und war mit Handschellen an einer Armlehne festgekettet. Auf dem Sitz neben ihm lag sein Rucksack. Darin waren seine Zahnbürste, Zahnpasta und eine Schachtel mit Briefpapier, die seine Mutter ihm geschenkt hatte. Er hatte ihr versprochen, wenigstens einmal die Woche zu schreiben.
Er schaute zum Fenster hinaus, auch wenn es nicht viel zu sehen gab – hauptsächlich Wiesen und Baumwollfelder. Er befand sich auf einer langen Busfahrt nach Nirgendwo. Der Bus hatte keine Klimaanlage und die stickige, heiße Luft war fast ebenso beklemmend wie die Handschellen.
Stanley und seine Eltern hatten sich vorzumachen versucht, er würde einfach nur für eine Weile ins Feriencamp gehen, so wie die reichen Kinder. Als Stanley noch jünger war, hatte er oft mit seinen Plüschtieren Feriencamp gespielt. »Spaß & Spiele« stand auf dem Programm. Mal ließ er sie mit einer Murmel Fußball spielen, mal gab es Hindernisrennen und manchmal auch Bungeespringen vom Tisch hinunter, wozu er die Tiere an durchgerissenen Gummibändern festband. Jetzt versuchte Stanley sich vorzumachen, dass dieses Mal für ihn selbst »Spaß & Spiele im Feriencamp« angesagt war. Vielleicht würde er ja auch Freunde finden, dachte er. Zumindest könnte er im See schwimmen gehen.
Zu Hause hatte er keine Freunde. Er war übergewichtig und die anderen Kinder in seiner Schule machten sich oft darüber lustig. Sogar seine Lehrer machten manchmal irgendwelche grausamen Bemerkungen, ohne
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