Fröhliche Zeiten
Wegweiser
Was fällt uns zu allererst ein, wenn wir zurückdenken an unsere Jugend unmittelbar nach dem Krieg?
Die Feste.
Wir haben immerzu gefeiert. Obwohl wir eigentlich nichts zu lachen hatten, konnten wir, nach allem was hinter uns lag, den Ernst nicht mehr ernstnehmen. Jedes Zusammentreffen, jedes Wiedersehen wurde zum Fest. Dazu brauchte es nicht viel. Einen Raum, ein Radio oder ein Grammophon, etwas zu trinken, weil Tanzen und Reden durstig machen.
Alkoholisches war zwar willkommen, als Hilfsmittel aber konventionell. Wir hatten gelernt, daß es dazugehört. Für die Stimmung brauchten wir’s nicht. Die schlug von Anfang an hohe Wellen. Ob sich nun zwanzig eine Flasche teilten oder nur fünf. Irgend jemand brachte immer irgend etwas mit. Ärzte meistens oder Chemiker.
Auf einem Faschingsfest bei Emil Frey, dem berühmten Medizinprofessor, standen erstaunlich viele Flaschen bereit. Dazu Orangenjuice aus amerikanischer Quelle. Nur etwas fehlte — Gläser. An sich hätte es niemanden gestört, aus der Flasche zu trinken, doch der Alkohol stammte von einem Institut der Universität und war vergällt. Er schmeckte penetrant nach Zusätzen wie Kampfer, Menthol oder nach dem hochgiitigen Methyl. Um Beigeschmack wie Nebenwirkungen zu mildern, sollte er mit dem Juice verdünnt werden.
Aber wie?
Da auch keine Schüssel zu finden war, die sauber genug gewesen wäre, erklärten sich beherzte Kavaliere bereit, von sämtlichen Flaschen, ohne sich die Stimmung vergällen zu lassen, die obere Hälfte abzutrinken, damit sie für die Damen mit Orangenjuice aufgefüllt werden konnten.
Die Wackeren trugen lebensgefährliche Räusche nach Hause, beziehungsweise sie mußten rauscheshalber getragen werden und fielen zumindest für das nächste Fest aus.
Dann tanzten sie wieder und zeigten keine Idiosynkrasie gegen Alkohol. Auch Spätfolgen sind nicht bekannt. Sie leben noch heute, oder starben viel später aus anderen Gründen.
Ein besonders erfindungsreicher Festefeierer — Mediziner auch er — kam mit kleinsten Mengen bestimmter Flüssigkeit aus. Heute würde man ihn als Nestor der Drogenszene bezeichnen — er mixte und verabreichte sogenannte Stimmungsspritzen. Sein Name sei verschwiegen, um ihn vor verspätetem Reichtum zu bewahren. Nur so viel kann verraten werden: Die von ihm präparierten Gäste fielen in der üblichen Hochstimmung nicht auf.
Unsere Reserven an Fröhlichkeit sprengten jedes Maß. Um sich zu amüsieren, bedurfte es keiner Getränke, keiner kaubaren Genüsse, keiner Musik, ja nicht einmal eines Partners. Mehrere Frohnaturen als Umfeld genügten.
Damals war ein amerikanischer Schlager in Mode. Er handelte von einem gewissen Richard, der die Tür aufmachen und den Anklopfenden hereinlassen soll, was er jedoch nicht tat.
Open the door, Richard!
Open the door and let me in.
Open the door, Richard!
Richard why don’t you open the door?
In dieser schrecklichen Ungewißheit wurde der Zuhörer belassen. Die Klopfzeichen an der Tür waren rhythmisch mit der Information verwoben. Paarweise zu je vier Achteln unterbrachen sie mehrfach den Text — für die Zuhörer ein Anreiz, mitzuklopfen.
Irgendwo fand wieder ein Fest statt, saßen Freunde in einer Wohnung zusammen. Plötzlich griff einer im Überschwang nicht nach einer Tanzpartnerin, sondern nach der nächsten Tür und klopfte, während er den Schlager sang, jeweils an den richtigen Stellen. Das machte Laune. Alle stimmten in den Song ein.
Nun hängte er die Tür aus, ging damit durchs Zimmer, durch die ganze Wohnung, singend, klopfend, unbeeindruckt vom Gewicht der Tür und hörte nicht mehr auf. Weder vergällter Alkohol, noch eine Spritze oder die Rarität eines zu starken Kaffees waren schuld an seiner trancehaften Besessenheit, die alle mitriß zu befreiender Albernheit.
Sie wirkte nach. Anderntags erzählten wir einander die Geschichte und gerieten darüber erneut in Stimmung, als sei wieder ein Stück Vergangenheit von uns abgefallen. Den Mann mit der Tür erwähnten wir nicht weiter. Verrückt waren wir alle. Verrückt vor Freude.
Ich würde es nicht Galgenhumor nennen, was uns zu Höchstleistungen an Fröhlichkeit anspornte. Wir verdankten sie nicht dem Morgenthau-Plan, der Deutschland versteppen wollte, zum Agrarland ohne jede Industrie, und damit unsere Zukunftsaussichten auf Agrikultur mit Kultur heruntergeschraubt hätte.
Was es war, hat Hans Werner Richter formuliert. Nicht irgendeiner dieses Namens, vielmehr der Hans
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