Die Fotografin
Toten und sie kann sich schon denken, was passiert ist. Wieder einmal ist sie ausgerastet. Das Messer liegt neben dem toten Mann, den sie nie mehr wieder sehen wollte, den sie nur noch zum Abschiednehmen besucht hat. Bei diesem Gedanken schießen ihr die Tränen in die Augen und als sie ihre Hände vors Gesicht schlägt, bemerkt sie, dass diese blutig sind, dass auch ihr Oberkörper über und über mit Blut beschmiert ist. Und es ist nicht ihr Blut, das begreift sie jetzt mit einer mitleidlosen Klarheit.
Entsetzt dreht sie sich um, hastet zurück in das Schlafzimmer und weiter in das angrenzende Bad, will sich das Blut von den Händen waschen, will alles ungeschehen machen und endlich wieder in ihr altes Leben zurückkehren. Doch in dem Spiegel über dem Waschbecken sieht sie jetzt eine große nackte Frau mit wirren blonden Haaren, mit einer bereits ein wenig erschlafften Figur und einem Busen, der nicht mehr ganz straff, aber immer noch ansehnlich ist. Sie sieht das interessante Gesicht einer attraktiven 39-jährigen Frau, die schon einiges erlebt hat, sieht die glatte Stirn, die noch keine Botoxbehandlung nötig hat, sieht einen schlanken, faltenfreien Hals, wenn sie das Kinn hebt.
Doch sie sieht auch eine Frau, die sich über Monate in dieser Wohnung mit ihrem Liebhaber getroffen hat und sich jetzt von ihm trennen wollte, um wieder in ihr altes Leben an der Seite ihres erfolgreichen Mannes zurückzukehren.
Plötzlich zuckt sie zusammen, denn die Erkenntnis, wer diese Frau im Spiegel ist, trifft sie wie ein gezielter Faustschlag:
Diese Frau im Spiegel bin ich und ich habe gerade meinen Liebhaber getötet!
1. WIEN Dienstag – morgens
„Ich habe ihn getötet!“, schreie ich, als ich aus einem tiefen fast schon komatösen Schlaf erwache. Erst als meine Worte ungehört in dem Zimmer verhallen, öffne ich die Augen und kann nicht fassen, was ich sehe. Ich liege zuhause in meinem eigenen Bett, ein Irrtum ist ausgeschlossen, denn neben mir auf dem Nachttisch steht das Bild von Gregor, Paul und mir. Doch Paul, der ganz rechts steht, sehe ich nur in meinen Gedanken, denn das Foto ist abgeknickt und sein Gesicht deshalb verborgen auf der Rückseite des Bildes. Mein Mann Gregor will es so. Also lächeln nur mein Mann und ich aus dem Bilderrahmen. Daneben liegt das silberne Etui mit meinen Visitenkarten. Ich klappe den Deckel auf, würde mich in diesem Augenblick nicht wundern, wenn ein anderer Name auf der Karte stünde. Doch da steht „Adriana See – Fotografin“ und die Nummer meines Businesshandys. Das bin also wirklich ich.
„Ich habe ihn getötet!“, rufe ich provokant gegen die geschlossene Tür, die ins angrenzende Badezimmer führt. Von dort höre ich aber nur die Dusche und die volle, einnehmende Stimme meines Mannes, der unter dem prasselnden Wasserstrahl wieder eine seiner mitreißenden Reden übt. Natürlich kann er mich nicht hören.
Nach und nach beginne ich meine Situation zu analysieren. Ich war in der Wohnung meines Liebhabers und habe auf dem Boden eine männliche Leiche gesehen, die natürlich er sein könnte. Aber bin ich mir da so sicher? Doch ich erinnere mich an das Messer in meiner Hand, ich war am ganzen Körper blutig und ich muss ständig daran denken, einen Mord begangen zu haben. Das spricht doch eindeutig gegen mich.
Aber wieso erwache ich in meinem eigenen Bett, trage meinen Seidenpyjama und wieso liegt meine große Fliegeruhr ordentlich auf dem Nachttisch, genauso, wie ich sie jeden Abend dort hinlege? Meine Haut duftet nach einer Badeessenz und fühlt sich sauber und eingecremt an.
Im Bad hat Gregor die Dusche abgedreht und summt einen Popsong, während er sich elektrisch rasiert. Gregor ist oft schon morgens so penetrant guter Laune, dass ich ihn manchmal verdächtige, Poppers einzuwerfen, denn sein Verhalten ist nicht normal.
Nachdenklich streiche ich mir die Haare zurück und zucke zusammen. Taste nochmals mit den Fingerspitzen über meinen Hinterkopf, spüre eine schmerzhafte Beule. Wieso habe ich eine Beule? Ich kann mich nicht erinnern, mir den Kopf gestoßen zu haben. Aber das ist im Augenblick mein geringstes Problem. Viel wichtiger ist es, die Frage zu beantworten, ob ich meinen Liebhaber getötet habe.
Minutenlang liege ich regungslos auf dem Rücken, starre gegen die Decke meines Schlafzimmers, als würde ich dort eine Antwort auf meine vielen Fragen finden. Wie immer fällt mir die einfachste Lösung erst zum Schluss ein. Ich brauche ja bloß meinen Liebhaber
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