Zerstörte Seelen
Lieber Coop,
wenn du das liest, könnte ich verschwunden sein oder tot. Was du auch tust, such nicht nach mir. Menschen verschwinden zu lassen ist, wie du ja weißt, ihre Stärke. Sie verstecken Lebende und Tote … sie verbergen die Wahrheit. So geht das seit mindestens hundert Jahren – vielleicht sogar schon länger, wenn man Jack Casey glauben darf. Und ich habe keinen Grund, an seiner Aussage zu zweifeln. Jetzt nicht mehr.
Ein paar Dinge weiß ich über sie: Gelegentlich schlagen sie tagsüber zu, aber meist warten sie, bis es dunkel wird. Wie Vampire. Meist kommen sie zu zweit. Doch wenn sie mich holen – nein, nicht
wenn,
die Frage ist nur,
wann
sie es tun –, dann kommt ein ganzes Heer. Sie werden mich nicht töten. Sie wollen mich an den Ort bringen, den sie ihr Zuhause nennen.
Dort gehöre ich hin, sagen sie. Dort soll ich für meine Sünden büßen.
Diesen Brief schreibe ich auf der hinteren Veranda eines Hauses, das ich in Oguinquit, Maine, gemietet habe, an einem ruhigen und abgelegenen Ort. Die salzige Luft, die vom Wasser herüberweht, fühlt sich ungewöhnlich warm an für Anfang Dezember. Vielleicht liegt das am irischen Whiskey. Ich trinke Midleton, deine Lieblingsmarke. Und während ich über die Brüstung der Veranda hinweg den Sonnenuntergang betrachte, muss ich immer daran denken, dass wir nur ein einziges Leben haben. Dass es weder einen zweiten noch einen dritten Akt gibt, sondern nur diesen einen, chaotischen und unvollkommenen, den man uns zugesteht. Und dass die Entscheidung, wie wir ihn leben, ganz bei uns liegt.
Du hattest recht, Coop. Ich hätte mich für dich entscheiden sollen, als ich noch die Möglichkeit hatte.
Ich lege den Schlüssel für mein Apartment bei. Nur für den Fall, dass du den Zweitschlüssel, den ich dir gegeben habe, nicht mehr hast. Die Wohnung, die Sachen darin – das gehört nun dir.
Du sollst erfahren, was passiert ist. Alles. Ich will, dass du die Wahrheit kennst. Du sollst wissen, was ich gesehen habe, was mit mir und Jack Casey passiert ist.
Bei unserer ersten Begegnung erzählte Casey mir vom Beginn seiner Karriere, seiner Zeit als FBI -Profiler in der Behavioral Science Unit, der Abteilung für Verhaltenswissenschaften, wie man sie damals nannte. Er nannte sie die Monsterfabrik. Er sagte mir, dass dort draußen Kreaturen lauern, die Dinge tun, welche der menschliche Verstand nicht begreifen will oder vielleicht gar nicht begreifen kann.
Damals dachte ich, er übertreibt. Aber inzwischen weiß ich, dass Casey die Wahrheit gesagt hat. Ich habe erlebt, was sich hinter ihren Masken verbirgt.
Und noch etwas weiß ich genau:
Casey ist der Einzige, der mir glaubt.
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TEIL I | Der gute Dieb
1. Kapitel
Der Hubschrauber setzte zur Landung auf der inzwischen aufgegebenen Pease Air Force Base in Portsmouth, New Hampshire, an. Darby McCormick warf einen Blick aus dem Fenster. Im gleißenden Licht des Suchscheinwerfers an der Unterseite des Helikopters entdeckte sie tief unten auf der verlassenen Asphaltfläche einen großen weißen Lieferwagen. Sie sah die Kanzel auf dem Dach und die seitlich eingelassenen schwarzen Schießöffnungen. Kein Lieferwagen, sondern ein APC , ein gepanzerter Personentransporter. Diese mobile Kampfmaschine war gebaut, um Maschinengewehrbeschuss und Explosionen standzuhalten. Das Ding konnte über eine Landmine rollen, ohne auch nur einen Kratzer davonzutragen.
Nachdenklich strich Darby mit den Fingern über ihre trockenen Lippen. Vor einer Stunde hatte sie noch in ihrem Wohnzimmer gesessen, eine Flasche Heineken geleert und die letzten Minuten des Celtics Spiels verfolgt (Boston verpasste den New York Knicks eine ebenso verdiente wie unterhaltsame Abreibung). Dann hatte das Telefon geklingelt.
Sie hatte gehofft, es wäre ein Anruf von Coop aus London. Dorthin war er vor drei Monaten versetzt worden, und wegen der fünf Stunden Zeitverschiebung war es schwer, einander zu erwischen. Darby hatte Coop früher am Tag angerufen, um ihm für sein Geschenk zu danken – eine alte gebundene Ausgabe ihres absoluten Lieblingsbuches, Jane Austens
Stolz und Vorurteil
.
Aber die barsche Stimme am anderen Ende der Leitung stellte sich als Gary Trent vor, Senior Corporal des Sondereinsatzkommandos SWAT der Portsmouth-und-Durham-Region in New Hampshire. Der Corporal erklärte ihr, sie habe sich umgehend zu einem Einsatz im Norden einzufinden. Es sei bereits jemand auf dem Weg, der sie zum Logan Airport bringen
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