Die Frau aus Alexandria
er, bemüht, die letzten Reste der süßen, klebrigen Flüssigkeit hinunterzuschlucken. Er hoffte, dass es nicht zu lange dauern würde, bis er den Geschmack wieder losbekam.
»Sir.« Der Diener neigte zum Abschied leicht den Kopf. Es war kaum mehr als die Andeutung einer Verbeugung.
Pitt verließ das Haus durch den Hinterausgang, dankte Wachtmeister Cotter und kehrte am Pferdestall vorüber und um die Ecke auf den Connaught Square zurück, wo er nach einer Droschke Ausschau hielt, die ihn zu Narraway bringen sollte.
»Nun?« Narraway sah leicht verkniffen von seiner Zeitung auf. Sein Blick wirkte besorgt.
»Die Polizei hat die Ägypterin, Ayesha Sachari mit Namen, festgenommen und tut so, als hätte Ryerson mit der Sache nichts zu tun«, teilte ihm Pitt mit. »Die Leute stecken den Kopf in den Sand, statt der Sache auf den Grund zu gehen, weil sie nicht wissen wollen, wie es wirklich war.« Er tat einige Schritte durch den Raum und setzte sich Narraway gegenüber.
Dieser holte tief Luft und stieß sie langsam wieder aus. »Und wie war es wirklich?«, fragte er leise und gelassen. Er saß völlig reglos, als wolle er sich nicht durch die geringste Kleinigkeit ablenken lassen.
Statt lässig ein Bein über das andere zu schlagen, ahmte Pitt unbewusst die Haltung seines Vorgesetzten nach.
»Ryerson hat ihr Beihilfe geleistet, zumindest als es darum ging, die Leiche beiseite zu schaffen«, gab er zur Antwort.
»So, so ...« Wieder stieß Narraway langsam den Atem aus, ohne dass sich seine Anspannung minderte. »Und welche Beweise haben Sie dafür?«
»Die Frau ist sehr schlank und trug zur Tatzeit ein weißes Kleid«, gab Pitt zur Antwort. »Der Tote war ziemlich groß und schwer. Zwei Männer mussten ihn von der Schubkarre in den Wagen heben, der ihn zum Leichenschauhaus gebracht hat. Natürlich haben sie ihn unter Umständen rücksichtsvoller behandelt als jemand, der ihn möglichst schnell aus dem Weg haben wollte.«
Narraway nickte mit fest zusammengekniffenen Lippen.
»Aber auf ihrem weißen Kleid war weder Erde noch Blut zu sehen«, fuhr Pitt fort. »Lediglich Reste von vermoderten Blättern, weil sie am Boden gekniet hatte, möglicherweise neben dem Toten.«
»Aha«, sagte Narraway mit angespannt klingender Stimme. »Und was ist mit Ryerson?«
»Danach habe ich nicht gefragt«, erklärte Pitt. »Der Beamte am Tatort hat durchaus begriffen, warum ich diese Dinge wissen wollte, und die richtigen Folgerungen daraus gezogen. Soll ich noch einmal hin und ihn fragen? Das ließe sich ohne weiteres einrichten, nur würde dann ...«
»Das weiß ich selbst!«, fuhr ihn Narraway an. »Nein, lassen Sie es gut sein ... jedenfalls vorerst.« Flüchtig flackerte Unruhe in seinem Blick, dann aber sah er zur gegenüberliegenden Wand hin. »Wir wollen abwarten, wie sich der Fall entwickelt.«
Pitt blieb ruhig sitzen. Die Atmosphäre im Raum wirkte sonderbar auf ihn, als lägen wichtige Ereignisse in der Luft, die sich jedem Zugriff entzogen. Narraway hatte bestimmte Punkte nicht ausgesprochen. War das von Bedeutung? Oder war das, was er empfand, eher ein Unbehagen, das auf die gesammelten Erfahrungen vieler Jahre zurückging?
Auch Narraway zögerte, ließ aber den Augenblick verstreichen und sah Pitt erneut an. »Also weiter«, sagte er etwas weniger
schroff. »Sie haben mir gesagt, was Sie gesehen haben und was Ihnen der Beamte am Tatort mitgeteilt hat. Wir werden uns bemühen, Ryerson nach Möglichkeit aus der Sache herauszuhalten. Einstweilen soll sich die Polizei damit beschäftigen. Gehen Sie nach Hause und essen Sie etwas. Vielleicht brauche ich Sie später noch.«
Pitt erhob sich, ohne den Blick von Narraway zu wenden, der ihn seinerseits ansah. In seinen glänzenden Augen lag eine kaum erkennbare Empfindung. Dass er sie absichtlich verborgen hielt, spürte Pitt ebenso deutlich wie die gespannte Atmosphäre im Raum, die etwa so war wie an einem gewittrigen Tag.
»Ja, Sir«, sagte er ruhig und ging hinaus. Gedankenvoll sah ihm Narraway nach.
Erst am späten Vormittag kehrte Pitt in sein Haus an der Keppel Street zurück. Um diese Tageszeit waren die Kinder in der Schule. Als er die Haustür aufschloss, hörte er Charlotte und das Dienstmädchen Gracie in der Küche lachen. Während er sich die Schuhe auszog, musste er unwillkürlich lächeln. Die Geräusche hüllten ihn wohltuend ein: Frauenstimmen, das Klappern von Kochtöpfen, das schrille Pfeifen eines Wasserkessels. Die vom Küchenherd
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