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Die Frau aus Alexandria

Die Frau aus Alexandria

Titel: Die Frau aus Alexandria Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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alle über die Ausländerin her. Da steht, dass sie ’s getan hat un der Tote ’n achtbarer Herr war un so weiter.«
    Charlotte hatte ihr Lesen beigebracht. Gracie war ungeheuer stolz auf diese neu erworbene Fähigkeit, die ihr eine Tür zu neuen Welten aufgestoßen hatte, an die sie früher nicht einmal im Traum gedacht hätte. Wichtiger aber noch war ihr, dass sie jetzt allen Menschen auf geistiger, wenn schon nicht auf gesellschaftlicher Ebene von gleich zu gleich gegenübertreten konnte. Was sie nicht wusste, würde sie herausbekommen. Sie konnte lesen, war also imstande zu lernen. »Über den Minister steht da nix!«, fügte sie hinzu.
    Pitt nahm beide Zeitungen an sich und schlug sie auf, sodass sie den halben Tisch bedeckten, während er selbst nachsah. Jemima kam herein, den Schulkittel bereits über das Kleid gezogen. Mit ihren Zöpfen sah sie deutlich älter aus als ihre zehn Jahre, zumal sie, zumindest nach außen hin, nicht nur ausgesprochen beherrscht wirkte, sondern auch schon ziemlich groß war. Zu diesem Eindruck trugen auch die halbhohen Absätze ihrer Knöpfstiefel bei.
    »Guten Morgen, Papa«, sagte sie und wartete artig auf seinen Gegengruß.
    Er hob den Blick von der Zeitung, denn ihm war bewusst, dass sie seit dem nicht besonders lange zurückliegenden Abenteuer in Dartmoor mehr denn je auf seine Zuwendung angewiesen war. Es hatte ihn bedrückt, dass es ihm zum ersten Mal nicht möglich gewesen war, seine Angehörigen selbst zu schützen, die in höchster Lebensgefahr schwebten. Zum Glück hatte sein einstiger Untergebener Tellman diese Aufgabe glänzend gelöst und dabei seine eigene berufliche Zukunft aufs Spiel gesetzt. Er arbeitete nach wie vor in der Wache an der Bow Street. Ihr neuer Leiter, Pitts Nachfolger Oberinspektor Wetron, war nicht nur ein kalter Ehrgeizling, man vermutete auch, dass er zu den führenden Köpfen des Inneren Kreises gehörte und möglicherweise sogar auf dessen alleinige Führung hinarbeitete.
    »Guten Morgen«, gab er gemessen zur Antwort und sah seine Tochter an.
    »Steht da was Wichtiges drin?«, fragte Jemima mit einem Blick auf die Zeitung.
    Er zögerte kaum wahrnehmbar. Stets war ihm darum zu tun, die Kinder vor Widrigkeiten zu bewahren, ganz besonders Jemima, vielleicht, weil sie ein Mädchen war. Charlotte hatte ihm allerdings erklärt, dass Geheimnistuerei und ausweichende Antworten den Menschen mehr Angst machen als selbst die entsetzlichsten Tatsachen und dass es schmerzt, wenn man von etwas ausgeschlossen wird, und seien die Gründe dafür noch so ehrenwert. Daniel, zwei Jahre jünger als Jemima, war selbstgenügsamer und weniger von seinem Vater abhängig. Zwar sah und hörte auch er aufmerksam zu, beschäftigte sich aber im Unterschied zu seiner Schwester in erster Linie mit seinen eigenen Angelegenheiten.
    »Ich glaube nicht«, sagte er wahrheitsgemäß.
    »Arbeitest du an dem Fall?«, fasste sie nach und sah ihn angespannt an.
    »Er ist nicht gefährlich«, beruhigte er sie und lächelte dabei. »Es sieht so aus, als ob eine Frau jemanden erschossen hat und ein
wichtiger Mann zu diesem Zeitpunkt ebenfalls am Tatort war. Wir müssen tun, was wir können, damit er keine Schwierigkeiten bekommt.«
    »Warum?«, wollte sie wissen.
    »Eine berechtigte Frage. Weil er dem Kabinett angehört und das Ganze für die Regierung unseres Landes äußerst peinlich wäre.«
    »Hätte er denn woanders sein sollen?«, fragte sie. Offenbar hatte sie sofort begriffen, worum es ging.
    »Unbedingt – und zwar zu Hause im Bett, denn es war mitten in der Nacht.«
    »Warum hat die Frau den anderen erschossen? Hatte sie Angst vor ihm?« Das war für sie der nächstliegende Gedanke. Erst vor wenigen Monaten hatte sie erlebt, wie es war, Angst um sein Leben zu haben. Sie hatten am Rande des Heidelandes mitten in der Nacht aufstehen, eilig alle Habe zusammenraffen und in der Dunkelheit mit einem Pferdefuhrwerk fliehen müssen.
    »Ich weiß nicht, mein Schätzchen«, sagte er und legte ihr eine Hand auf die glatte Wange. »Wir müssen das noch herausbekommen. Die Frau hat bisher nichts gesagt. Es ist genau wie früher meine Arbeit bei der Polizei und überhaupt nicht gefährlich.«
    Konzentriert und aufmerksam sah sie ihn an. Offensichtlich überlegte sie, ob er ihr die Wahrheit sagte. Sie kam wohl zu dem Ergebnis, dass es sich so verhielt, denn mit befriedigtem Lächeln sagte sie »gut« und setzte sich an den Frühstückstisch. Gracie stellte den Haferbrei vor sie hin, der

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