Die Frau, die ihren Mann auf dem Flohmarkt verkaufte: Oder wie ich zum Erzähler wurde (German Edition)
›Keine Sorge, er klettert nach oben und öffnet die Tür des Schlafgemachs seiner Angebeteten. In dem Augenblick kommt die Mutter, um nach ihrer Tochter zu schauen, aber unser Held versteckt sich. Nun geh, und morgen erzähle ich im Café, wie die Geschichte weitergeht.‹«
SCHEHERASAD, MEINE MUTTER UND ICH
»Kindern erzählt man Geschichten zum Einschlafen – Erwachsenen, damit sie aufwachen.«
Jorge Bucay,
argentinischer Autor und Psychiater
Ich war zehn Jahre alt, als man im Juni 1956 im Rundfunk ankündigte, tausendundeine Nacht lang würden allabendlich die Geschichten der Scheherasad gesendet. Wochenlang sprachen meine Mutter und die Nachbarinnen darüber. Mir war ihre Aufregung nicht ganz klar. Der Name Scheherasad sagte mir nicht viel. Auf Arabisch hat er keine Bedeutung. Wie viele andere Kinder kannte auch ich die eine oder andere Geschichte aus Tausendundeiner Nacht. Es waren vor allem die Geschichte von Ali Baba und den vierzig Räubern sowie die Abenteuer des Seefahrers Sindbad, die bei uns damals große Beliebtheit genossen.
Ich weiß es noch wie heute. Es war ein Montag. Ich rannte von der Schule kommend wie immer zuerst in die Küche, um zu sehen, was meine Mutter gekocht hatte. Ich weiß zwar nicht mehr, was sie uns zu Mittag gezaubert hat, aber ich erinnere mich daran, dass sie mich fragte: »Glaubst du wirklich, der Rundfunk wird die Geschichte der Scheherasad tausendundeine Nacht lang erzählen?« Ich verstand damals ihre Sorge nicht. Naiv antwortete ich: »Natürlich, sicher werden sie das tun.«
Wie viele Erwachsene misstraute meine Mutter den Worten des Rundfunks. Viel zu oft hatte die Regierung im Radio Versprechen gemacht über rosige Zeiten, in denen Freiheit, Gerechtigkeit und andere edle Zustände herrschen würden, und ihre Versprechen dann nicht gehalten. Mit den Jahren verlor das Radio an Glaubwürdigkeit.
Die Frage schien meine Mutter beim Mittagessen immer noch zu beschäftigen. »Wird der Rundfunk diesmal sein Wort halten?«, fragte sie. Mein Vater dagegen schien sich keine Sorgen zu machen. Er konnte vielmehr seine Enttäuschung kaum verbergen. »Typisch«, stöhnte er, »die guten Sendungen kommen immer dann, wenn die Bäcker schon längst schlafen, aber gutes Brot wollen die Herren vom Rundfunk haben.«
Mein Vater konnte nie länger als bis zehn Uhr aufbleiben, denn er musste als Bäcker Tag für Tag um vier Uhr aufstehen, einerlei ob es Winter oder Sommer war. Scheherasad aber sollte erst um elf Uhr nachts sprechen. Auch ich habe mich darüber aufgeregt, warum so spannende Sendungen erst so spät gesendet werden, wo doch alle Kinder schon schlafen. Gegen neun Uhr musste ich ins Bett, aber ich konnte nicht schlafen. Meine beiden Brüder waren bereits um sieben eingeschlafen. Sie hatten am späten Nachmittag Fußball gespielt und waren völlig erschöpft. Auch die Nachteule Leila fragte leise, warum ich nicht schliefe. »Ich will die Geschichte hören«, antwortete ich. Bald schnarchte auch sie.
Ich konnte im Kinderzimmer hören, wie meine Mutter das Radio einschaltete. Als die Scheherasad-Musik von Rimski-Korsakow begann, schlich ich aus dem Bett, eilte barfuß zum Schlafzimmer meiner Eltern, öffnete die Tür einen Spalt und bettelte mit mitleiderregendem Blick und ohne ein Wort zu sagen um Einlass. Meine Mutter legte den Zeigefinger auf die Lippen und winkte mich herbei, gerade als die Musik zu Ende war. Mein Vater schlief mit ausgebreiteten Armen wie Jesus auf dem Kreuz über dem großen Bett.
Ein Sprecher verlas eine pathetische Einleitung über den Rundfunk, der keine Kosten gescheut habe, um für seine verehrten Zuhörer diesen Schatz an Erzählungen aufzubereiten. Nach der Einleitung spielte eine kurze Weile Musik, und dann erzählte ein anderer Sprecher die Vorgeschichte der Scheherasad. Natürlich gab der Sprecher nicht alle Details wieder. Heute weiß ich auch, warum. Diese Passage ist nämlich wie alle anderen deftigen erotischen Stellen zensiert worden. Sogar den Übersetzer der deutschen Ausgabe Enno Littmann hatte sie verstört. Er fand sie obszön und übertrug sie zum »Schutze der Jugend« mit Unterstützung eines befreundeten Latinisten ins Lateinische. Die Passagen wirken im Text komisch, aber mit Sicherheit haben sie die Motivation, Latein zu lernen, bei vielen Schülern verstärkt.
Der Sprecher sagte bloß, dass König Schahrayar von seiner Frau betrogen wurde und daraufhin ein grausames Blutbad veranstaltete. Er ließ seine Frau und alle
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