Die Frau, die ihren Mann auf dem Flohmarkt verkaufte: Oder wie ich zum Erzähler wurde (German Edition)
darauf vertröstete, die Geschichte in der nächsten Nacht fortzusetzen. Kurz vor zwölf fielen mir die Augen zu, und ich schlief tief und fest, denn nun hatte ich Vertrauen zu Scheherasad geschöpft. Sie würde noch viel erzählen.
Und jetzt lernte ich den Genuss kennen, selbst die Geschichten fortzusetzen. Ich hatte keine Sorge um die Meisterin aller Erzähler, aber ich überlegte mir, wie die Geschichte weitergehen würde. Zwei, drei Varianten waren möglich. Oft lag ich daneben, denn Kinder retten gerne die Welt und wollen alles zum Guten wenden, und das stellt erzählerisch betrachtet nicht gerade die beste Lösung dar.
Diese Nächte waren meine beste Schule und Scheherasad meine erste Lehrerin in der Erzählkunst. Später kamen Cervantes und die anonymen Autoren der Bibel dazu.
Nacht für Nacht hörten wir die Geschichten. Nur dienstags ging meine Mutter früh ins Bett, denn am Mittwoch hatte sie Waschtag und musste um vier Uhr morgens aufstehen. Die kinderreichen Familien in unserem Haus wechselten sich mit der Wäsche ab, so dass die einzige Terrasse des Hauses jeden Tag genug Platz für die Wäsche einer Familie bot. Mittwochs erkundigte ich mich also bei Nabil, meinem Sitznachbar in der Klasse, wie es mit der Geschichte am Abend zuvor weitergegangen war. Weil seine Mutter einen anderen Waschtag hatte, konnte er mir die Fortsetzung erzählen und ich wiederum erzählte sie, natürlich ausgeschmückt, meiner Mutter weiter, so dass wir mittwochabends im Bilde waren. Im Gegenzug erzählte ich Nabil auch die Fortsetzung der Geschichten, wenn er eine Folge verpasst hatte.
Tausendundeine Nacht lang hörten wir, meine Mutter und ich, die Geschichten der Scheherasad. Nacht für Nacht hallte ihre Stimme in unserer Gasse aus Hunderten von Radios. Vor allem im Sommer, wenn die Fenster offen standen, konnte man, wenn man durch die Gasse ging, nur eine Stimme hören, die Stimme der Scheherasad. Und wenn eine lustige Episode vorkam, so huschte ein Lachen durch die dunkle Gasse von Fenster zu Fenster, und danach hörte man die eine oder andere Mutter ihre Kinder ermahnen, sie mögen doch leiser lachen, damit der Vater nicht aufgeweckt werde. Über zwei Jahre, acht Monate und siebenundzwanzig Nächte hörten wir Scheherasad zu, dann aber kam der Tag, an dem die Geschichte zur späten Stunde ein für alle Mal zu Ende gehen sollte.
Meine Mutter war schon am Mittag sichtlich schlechtgelaunt. »Warum hört sie plötzlich auf?«, fragte sie, und niemand von uns Kindern konnte ihr eine befriedigende Antwort geben. Aber auch mein Vater konnte nichts anderes sagen als: »Jede Geschichte hat ihr Ende!« Als sie ihn dann fragte, was Scheherasad danach wohl gemacht hat, sah er sie mit großen Augen an. »Was Scheherasad danach wohl gemacht hat?«, wiederholte er. »Den Haushalt vielleicht?« Meine Mutter aber glaubte ihm nicht. Damals verstand ich ihre Aufregung ehrlich gestanden nicht.
Genau um elf Uhr fing die letzte Folge der Scheherasad an. Was dann folgte, hat mich schon als Zwölfjähriger gestört. Scheherasad soll den König nach Beendigung der letzten Geschichte um Gnade gebeten haben. Auf einen Wink hin sollen die Eunuchen und Ammen ihre Kinder gebracht haben, die sie dem König in dieser Zeit geborenhatte. Scheherasad nahm sie alle drei und brachte sie vor den König, küsste vor ihm den Boden und sprach: »O größter König unserer Zeit, dies sind deine Kinder, und ich flehe dich an, dass du mir den Tod erlässest um dieser unmündigen Knaben willen. Wenn du mich tötest, so sind diese Kleinen ohne Mutter, und sie werden unter den Frauen keine finden, die sie in rechter Weise erzieht.«
Es waren drei Knaben, einer von ihnen ging, der andere kroch und der dritte lag an ihrer Brust. Der Bericht über die drei Kinder, die flehende Scheherasad und der ganze elende Schluss sind nachzulesen in Littmanns Übersetzung.
Der König soll vor Rührung geweint und gesagt haben, er werde sie nicht umbringen lassen, denn sie sei »keusch und rein, edel und fromm«, und Scheherasad soll ihm dafür die Füße geküsst haben. Ich weiß heute nicht, warum ich diesen Schluss damals so schlecht fand. Vielleicht war es der Einfluss meiner Mutter, die wütend wurde, das Radio ausschaltete und nicht ins Bett, sondern in die Küche ging, um sich einen Kaffee zu kochen. Es war nach Mitternacht, aber wir saßen noch lange in der Küche zusammen.
»Nein, das kann einfach nicht sein!«, sagte sie nach langem Schweigen. »So eine Frau bettelt
Weitere Kostenlose Bücher