Die Frau, die ihren Mann auf dem Flohmarkt verkaufte: Oder wie ich zum Erzähler wurde (German Edition)
nicht um ihr Leben. Das hätte sie doch nach dem ersten Kind tun können. Warum hat sie denn dann so lange erzählt? Wahrscheinlich haben sie im Rundfunk kein Geld mehr!«, stöhnte sie verbittert und schwieg wieder. Auch am nächsten Tag wollte sie nicht glauben, dass Scheherasad mit zweiundzwanzig Jahren aufhörte zu erzählen. Sie wiederholte immer wieder, dass Scheherasad bestimmt noch länger erzählt hätte, der Rundfunk aber kein Geld mehr habe, um diese teure Sendung weiter auszustrahlen.
Die Erklärung meiner Mutter war schwach, doch sie überragt die unglaubwürdige offizielle Erklärung, die in den Büchern verewigt wurde.
Heute bin ich sicher, Scheherasad hatte nie aufgehört zu erzählen, denn Erzählen glich dem Leben und Schweigen dem Tod. Die Palastschreiber, die diese Geschichte zum ersten Mal schriftlich fixierten, bogen sie am Ende so hin, dass sie ihrem Brotherrn, dem Sultan oder dem Kalifen, gefiel. Was aber Scheherasad wirklich erzählt hatte, ist eine andere sehr lange Geschichte.
Eine Episode davon hat kein Geringerer als der große Edgar Allan Poe im Jahre 1845 verraten. Er schrieb sie unter dem Titel: »Die tausendundzweite Nacht der Scheherasad«. Und als hätte meine Mutter dem genialen Edgar Allan Poe, obwohl sie nach dessen Tod geboren wurde, ihre Meinung zugeflüstert, schrieb dieser am Anfang der tausendundzweiten Nacht: »Da musste ich zu meinem Befremden die Entdeckung machen, dass die literarisch gebildete Welt sich bisher auf Grund der Ausführungen in den ›Märchen aus tausendundeiner Nacht‹ in grobem Irrtum über das Schicksal der Scheherasad, der Tochter des Veziers, befunden hat; der an dieser Stelle gegebenen Lösung kann, will man sie nicht schlechtweg als unwahr bezeichnen, der Vorwurf nicht erspart bleiben, einen wichtigen Teil der Geschichte unterschlagen zu haben.«
Und Edgar Allan Poe erzählt über dreißig Seiten lang die Geschichte der tausendundzweiten Nacht, die so spannend endet, wie man es nie erwarten hätte können. Aber es wäre dumm, den Lesern zu verraten, was am Ende der tausendundzweiten Nacht geschehen ist, und damit die Lust auf so eine spannende Geschichte zu zerstören.
EINE ZAUBERHAFTE BRÜCKE NUR FÜR KINDER
»Wir meinen, das Märchen und das Spiel gehöre zur Kindheit: wir Kurzsichtigen! Als ob wir in irgendeinem Lebensalter ohne Märchen und Spiel leben möchten!«
Friedrich Nietzsche
Titel von Vorträgen und Büchern nehme ich sehr ernst. Ich überlege lange, und ich spiele oft mit Varianten, bevor ich mich endgültig festlege. Als ich mich schließlich für den obigen Titel entschieden hatte und ihn aufschrieb, merkte ich beim lauten Lesen, wie seltsam er klingt. Aber diese Brücke ist wirklich nur für Kinder.
Die Brücke heißt Märchen, und sie verbindet Völker, Orte und Zeiten. Sie ist in ihrem mündlichen Ursprung älter als viele Religionen und Philosophien, und sie ist unvergänglich. Wie oft verkündeten die Pessimisten in ihren Hiobsbotschaften lauthals ihren Tod: Das Märchen sei gestorben, man brauche es nicht mehr. Man bemühte sich nachzuweisen, wie schädlich und schändlich das Märchen sei, und zitierte süffisant den einen oder anderen bedenklichen Satz aus dem unendlichen Schatz der Märchen. Überflüssig zu sagen, dass solche Sätze in jeder Philosophie und in jedem heiligen Buch zu finden sind, aber sie waren nie ein Grund dafür, Religion und Philosophie abzuschaffen.
Hämisch zeigte man mit dem Finger auf den Staub, der so manches Märchen bedeckte, und übersah die Müllhalden des Realismus, ganz zu schweigen von den Müllbergen des sozialistischen Realismus.
Am schlimmsten wirkt sich diese Haltung in der sogenannten Dritten Welt mit ihren ungeheuren Schätzen des mündlichen Erzählens aus. Die Pseudointellektuellen der Moderne in den meisten ehemaligen Kolonien handelten so, als sollten sie im Auftrag des Kolonialismus die eigene Kultur zerstören. Bis in die siebziger Jahre verachtete man in den arabischen Ländern alles, was aus der Zeit der mündlichen Erzählkunst stammte. Man behauptete, die Volkskultur gehöre der Vergangenheit an und verhindere die Emanzipation. Man wollte Balzac, Hemingway, Kafka und Tolstoi nachahmen und damit modern werden. Sie erinnerten mich an den unglückliche Raben, dem es nicht gelang, wie ein Pfau zu stolzieren, und der später nicht einmal mehr wie ein Rabe gehen konnte.
Aber die Märchen haben alle Todesurteile und deren Richter überlebt. Dass diese Kunst so
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