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Die Frau, die ihren Mann auf dem Flohmarkt verkaufte: Oder wie ich zum Erzähler wurde (German Edition)

Die Frau, die ihren Mann auf dem Flohmarkt verkaufte: Oder wie ich zum Erzähler wurde (German Edition)

Titel: Die Frau, die ihren Mann auf dem Flohmarkt verkaufte: Oder wie ich zum Erzähler wurde (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rafik Schami
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mein Freund Nader eine geheime Sprache bei, die wir bald so meisterlich sprachen, dass keiner uns verstand. Was für ein Glücksgefühl! Immer wenn die anwesenden Erwachsenen alle Sprachen beherrschten, konnten wir uns verständigen, und sie schauten uns verwirrt und hilflos an. Es war eine einfache Sprache, aber schnell gesprochen war sie nicht zu knacken. Der Satz »Der Kerl ist lästig« etwa wurde durch ein einfaches Verfahren verschlüsselt. Bei jedem Wort ersetzte ein B (oder ein anderer Buchstabe) den ersten Buchstaben. Unser Satz lautete nun: Ber berl bst bästig. Um anzuzeigen, welcher Buchstabe ursprünglich dagestanden hatte, fügte man hinter jedes Wort ein Tarnungswort, dessen Anfangsbuchstabe mit dem ersetzten übereinstimmte. So lautet der Satz nun: Ber Damaskus berl Kuskus bst Immergrün bästig Lulu. Selten konnte ein Erwachsener verstehen, was wir uns so schnell erzählten.
    In solchen Augenblicken fühlte ich mich wie ein Astronaut von einem anderen Planeten. Manchmal war ich auch Räuber oder König, Dichter oder Feuerwehrmann, Seemann oder Wüstenreiter, verliebter Held oder enttäuschter Verlierer. Nur meine Eltern nannten mich »kleiner Junge« (arabisch: Walad), sie wussten nichts von all meinen Phantasien, die für mich wirklicher als ihre Realität waren. Es gab alles auf der Straße: Trauer, Freude, Schmerz, Krieg, Frieden, Freundschaft, Feindschaft und vieles mehr. Nur eins gab es nicht: Langeweile, die Quelle des Unfugs.
    Es gab Gewinner-Verlierer-Spiele. Es gab Wettspiele, wo die Zuschauer mit einbezogen wurden, aber es gab auch Schau-Spiele, bei denen Nachahmung von Filmszenen, Zirkus-Artistik, Zauber, Taschentricks, Zahlenmagie gefragt waren. Der einzige Zweck dieser Spiele lag darin, mit den eigenen Körper-, Finger- oder Hirnfähigkeiten das Publikum zu faszinieren. Als selten erreichter Hauptpreis konnte das Herz eines Mädchens gewonnen werden.
    Aber es lauerten auch große Gefahren überall. Die Straße hatte ihre strengen sozialen Regeln, sie war meine Erzieherin, erst an zweiter Stelle kamen meine Eltern. Dort auf der Straße unter jüngeren und älteren Kindern lernte ich die Bedeutung von Verantwortung, die Grenzen der Freiheit und die Grundregeln des Umgangs miteinander und übte mich in vielen geistigen und sozialen Künsten: Diskutieren, Schlichten, Singen, Rezitieren von Versen und, wenn es darauf ankam, das Erfinden derselben, Erraten von Zahlen, Namen und Orten, Karten-, Schach- und Backgammonspielen, Zaubern, Erzählen und vor allem Zuhören. Hier auf der Gasse wurde ich – als mündlicher Erzähler – geschult. Mitten in Lärm und Unruhe zehn Teufelskinder für eine Geschichte zu interessieren und sie dann auch noch zu Ende zu erzählen, ist eine Herausforderung. Die deutschen Zuhörer sind höfliche Engel im Vergleich dazu. Jeder meiner Zuhörer auf der Gasse behauptete, er kenne eine bessere Geschichte. Es dauerte Jahre und Hiobs Geduld, bis ich mich durchsetzte.
    Aber nicht nur unser Geist war auf der Gasse, um behutsam die Geheimnisse und Fertigkeiten der Welt zu lernen, sondern auch und vor allem unser Körper: Kämpfen, Ballspielen, Klettern, Purzelbäume schlagen, Murmeln präzise platzieren, Bogenschießen, Drachen steigen lassen, Reifenrennen, Verstecken, Fangen, Tanzen und Umarmen. Unser Körper lernte sich auszudrücken, erfuhr Freude und Schmerz.
    Als ich vor fünfzig Jahren auf der Gasse spielte, gab es zu jeder Jahreszeit ein besonderes Spiel, das – ganz streng – nur in dieser Zeit gespielt wurde. Wer bestimmen durfte, wann die Zeit für den Wechsel gekommen war, blieb ein Geheimnis der Kindheit.
    Einzig Murmelspiele waren, da sie relativ wetterunabhängig sind, als Brücke zwischen den Jahreszeiten zugelassen. Das führte dazu, dass die Regeln der Murmelspiele immer präziser formuliert wurden. Es gab Schiedsrichter für Grenzfälle und Experten für die Wertigkeit der Murmeln. Ich erinnere mich noch, dass die billigsten Murmeln aus Glas kein Innenleben hatten. War das Innere einer Murmel kunstvoll mit Farbe gestaltet und sauber ausgeführt, hatte die Murmel den zwei- bis dreifachen Wert einer »normalen«. Eingeschlossene Luftbläschen zählten, obwohl schön, als Schwäche, die einen Punktabzug auf der Werteskala bedeuteten. Große waren teurer als kleine, Porzellan- und Marmormurmeln teurer als solche aus Glas. Einmal gab ich für eine walnussgroße Murmel aus feinem Porzellan zwanzig Glasmurmeln her. Sie war mein Glücksbringer. Ich habe sie

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