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Die Frau, die nicht lieben wollte und andere wahre Geschichten über das Unbewusste (German Edition)

Die Frau, die nicht lieben wollte und andere wahre Geschichten über das Unbewusste (German Edition)

Titel: Die Frau, die nicht lieben wollte und andere wahre Geschichten über das Unbewusste (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen Grosz
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Stadt zu Stadt machte ihn nervös; irgendwie wurde er das unangenehme Gefühl nicht los, er könnte Anna verlieren, könnte sich umdrehen und sie wäre nicht mehr da. Jeden Morgen, ehe sie die pensione verließen, musste Anna ihm versprechen, dass sie, sollten sie einmal getrennt werden, sich sofort auf den Weg zur Stadtmitte und zu den Stufen der Kathedrale machte. Das war ihr Treffpunkt. »Wenn ich an das Haus in Frankreich denke, sehe ich Anna im Wohnzimmer sitzen und auf mich warten – das ist unser Treffpunkt, genau wie die Kathedrale.«
    Ich kann hören, wie er im Zimmer umherwandert. »Keine Sorge, Mr Grosz, ich schenke mir nur noch etwas Tee ein. Ich bin nicht im Bad.«
    An manchen Tagen, bekennt er, müsse er ununterbrochen ans Haus denken, stelle sich für dieses Zimmer einen anderen Anstrich vor, für jenes Zimmer einen größeren Durchbruch. Er skizziert Grundrisse und Innenansichten. Heute hatte er während einer Sitzung eine Fluransicht vom Hauseingang bis zur Küche gezeichnet. Würde ich ihn fragen, was in der Speisekammer ist, könnte er mir jeden einzelnen Gegenstand auf den Regalen nennen. Meist aber denkt er an die Zimmer, an einen Umbau, an die Proportionen. Es ist lächerlich, sagt er, aber in dem Haus kenne ich mich viel besser aus als in meinem Haus in London.
    Es handle sich bestimmt um eine Flucht vor der realen Welt, sagt er. Das Haus in Frankreich müsse mit einer Phantasiewelt zusammenhängen, die er sich als Kind schuf. Er hat die Streitereien seiner betrunkenen Eltern gehasst, die Tobsuchtsanfälle seiner Mutter, ihr explosives Temperament. »Ich war immer in einem Buch oder einem Tagtraum versunken und habe versucht, dem Lärm ihrer Auseinandersetzungen zu entfliehen. Sie werden mir vermutlich sagen, ich hätte versucht, dem Lärm und meinem Hass auf die Eltern zu entfliehen – und hätten damit recht.«
    Er sagt, es sei ihm peinlich und es beschäme ihn, dass er nicht wie ein normaler Mensch ein paar Minuten allein in einem Hotelzimmer sitzen könne. »Ich verstehe es nicht«, fährt er fort. »Ich fürchte, mein Haus untergräbt meinen Realitätssinn.«
    »Vielleicht«, erwidere ich. »Es könnte aber auch sein, dass Ihnen das Haus hilft, Ihren Realitätssinn zu bewahren. Sie denken ja nicht ständig an Ihre Zuflucht in Frankreich, vielmehr scheinen Sie es vor allem dann zu tun, wenn Sie allein und von allen anderen getrennt sind, wenn Sie sich fürchten oder zornig sind.«
    »Das ist eine sehr wohlwollende Interpretation dessen, was ich zu beschreiben versuche, nur bin ich mir nicht sicher, ob sie stimmt. Sie erklärt nicht meine unaufhörliche Lust zum Dekorieren, mein absurdes Feilschen – das: ›Ich gebe alles her, wenn ich dafür … was auch immer haben kann.‹«
    Nein, erwidere ich, diese Tauschgeschäfte erklärt es nicht. »Das scheint mir eher etwas zu sein, was ein verängstigtes Kind macht.«
    Ich höre wieder, wie er sich bewegt, vermutlich aufsteht.
    Er sagt, es gebe da eine Geschichte von Joyce, sicher in Dubliner , die habe er während seines ersten Studienjahres gelesen, seither aber keinen Blick mehr hineingeworfen – das Ende sei zu erschütternd, zu verstörend. Zum Schluss der Geschichte kommt der Vater nach Hause – er hat getrunken – und stellt fest, dass seine Frau in der Kirche ist und sein Sohn das Feuer ausgehen ließ. Der Vater muss also auf sein Abendessen warten, und der kleine Junge versucht, ihn zu besänftigen. Er sagt dem Vater, er mache ihm das Abendessen, aber damit gibt der sich nicht zufrieden. Er holt den Spazierstock, krempelt die Ärmel auf und beginnt, seinen kleinen Jungen zu verdreschen. Es gibt kein Entkommen. Immer wieder schlägt der betrunkene Vater auf den kleinen Jungen ein. Blut fließt. Der kleine Junge bittet, fleht ihn an, dann wird aus dem Bitten ein Feilschen: »Schlag mich nicht, Papa! Ich sag … ich sag auch ein Ave Maria für dich … Ich sag ein Ave Maria für dich, Papa, wenn du mich nicht schlägst …« [2]  
    So hat es sich angefühlt, wenn seine Mutter ihn schlug und verprügelte – »Hau mich nicht, Mummy, ich will auch lieb sein, will ein lieber Junge sein, Mummy.« Und wenn das nicht wirkte, »habe ich Gott angefleht – ›lieber Gott mach, dass sie aufhört, mach, dass sie aufhört. Ich gebe dir alles, was ich habe, wenn du dafür sorgst, dass ich mich sicher fühle. Bitte, lieber Gott, bitte.‹«
    Ich höre ihn atmen. Ich habe das Gefühl, dass er versucht, nicht zu weinen. Er sagt:

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