Die Frau, die nicht lieben wollte und andere wahre Geschichten über das Unbewusste (German Edition)
»Mr Grosz?«
»Ja?«
»Mein Haus hat eine magische Tür.«
»Eine magische Tür?«
Vor einem Jahr befand sich Mr N. auf einem Langstreckenflug mit Zwischenhalt in Hongkong. Eine Stunde nach dem Abflug aus Hongkong gab es einen Knall, dann fegte der Wind durchs Flugzeug. Die Sauerstoffmasken fielen herab. Aus zehntausend Metern Höhe sank die Maschine im Sturzflug. Er meinte, sterben zu müssen. »Ich dachte, wenn ich nur aufstehen und die Cockpittür öffnen könnte, dann betrete ich mein Haus. Ich wäre daheim und sicher. Ich wollte mir schon die Sauerstoffmaske abreißen und den Sitzgurt öffnen, als sich die Maschine wieder fing.«
Eine steckengebliebene U-Bahn, ein Verkehrsstau – er kann aufstehen und durch eine Tür in sein Haus gehen. Er denkt oft an diese magische Tür – was muss er hergeben, um sie zu bekommen? »Das ist verrückt«, sagt er, »nicht?«
Ich sage ihm, ich halte es nicht für verrückt. Ein kleiner Junge, der verprügelt wird, würde alles für eine magische Tür geben.
»Ich denke nicht oft an meine Kindheit. Und wenn, dann erinnere ich mich nicht an besonders viel. Es scheint mir alles so lang her zu sein, so tot. Ich sage mir, das war meine Kindheit – nicht, das ist meine Kindheit. Sie ist in mir nicht lebendig.«
Keiner von uns sagt ein Wort. Nach einer Minute fürchte ich plötzlich, die Leitung könnte tot sein.
»Ich bin noch da«, sagt er und schweigt wieder einen Moment. »Laut meiner Uhr ist unsere Zeit fast um. Ich mag jetzt nichts mehr sagen. Und morgen gibt es eine Cocktailparty, weshalb ich eine Viertelstunde früher aufhören muss. Tut mir leid.«
»Danke, dass Sie mir Bescheid gesagt haben.«
»Mr Grosz?«
»Ja?«
»Eigentlich habe ich gar kein Haus in Frankreich. Das wissen Sie doch, oder?«
Lügen
Über Geheimnisse
Das ärztliche Begleitschreiben nannte ihn einen pathologischen Lügner – ob ich ein Gutachten anfertigen, ihn als Patienten annehmen könne?
Es ist jetzt einige Jahre her, dass Philip zur Konsultation zu mir kam. Sein Arzt hatte beschlossen, ihn an mich zu überweisen, nachdem er in einem Buchladen zufällig Philips Frau begegnet war. Sie hatte nach seiner Hand gegriffen und nur mit Mühe ihre Tränen zurückgehalten. Wäre es nicht gut, fragte sie, wenn sie besprächen, welche Behandlungsmöglichkeiten Philip in seinem Kampf gegen den Lungenkrebs noch blieben?
Während unserer ersten Begegnung schilderte Philip (der vollkommen gesund war, wie mir sein Arzt versicherte) einige seiner Lügen der letzten Zeit. Bei einer Wohltätigkeitsveranstaltung der Schule hatte er der Musiklehrerin seiner Tochter erzählt, er sei der Sohn eines berühmten Komponisten – eines Mannes, von dem man wusste, dass er unverheiratet und schwul war. Kurz vorher hatte er seinem Schwiegervater, einem Sportjournalisten, anvertraut, er habe einmal zum olympischen Reserveteam der englischen Bogenschießer gehört. Seine erste Lüge, an die er sich erinnern konnte, hatte er einem Klassenkameraden erzählt. Philip war elf oder zwölf Jahre alt, als er darauf beharrte, vom MI5 zum Agententraining angeheuert worden zu sein. Er schilderte die Schelte vom Schuldirektor: »Um Gottes willen – wenn du schon lügen musst, dann lüg wenigstens besser.«
Der Direktor hatte recht, Philip war ein grässlicher Lügner. Zwar schien jede Lüge darauf abgestimmt, den Zuhörer für ihn einzunehmen, doch war sie zugleich sinnlos übertrieben und hemmungslos riskant. »Es scheint Ihnen nichts auszumachen, wenn man Sie für einen Lügner hält«, sagte ich.
Er zuckte die Achseln.
Er sagte, Zuhörer zweifelten seine Behauptungen nur selten an. Seine Frau stellte ihn wegen der wundersamen Genesung vom Krebs ebenso wenig zur Rede, wie sie es bei der Erkrankung getan hatte. Andere, wie etwa sein Schwiegervater, waren skeptischer, sagten aber gleichfalls keinen Ton. Als ich ihn fragte, welche Auswirkungen das Lügen auf seine Karriere hatte – er war Fernsehproduzent – antwortete er, in seinem Metier würde alle Welt lügen: »Das gehört schon fast zur Berufsanforderung.«
Soweit ich erkennen konnte, kannte Philip kein Mitgefühl für die Leute, die er belogen hatte – meist schienen ihn die Folgen einfach nicht zu interessieren. Zumindest bis zu jener Woche, in der er zu mir kam. Seine siebenjährige Tochter hatte ihn um Hilfe bei der Französisch-Hausarbeit gebeten; er hatte ihr stets weisgemacht, er spreche die Sprache fließend. Statt aber nun zuzugeben, dass er
Weitere Kostenlose Bücher