Holst, Evelyn
1. Kapitel
Es war ein grauer, früher Dezembermorgen und die Sonne war noch viel zu kraftlos, um mehr als ein paar zaghafte Strahlen über die Straßen der Stadt zu schicken. Dunkle, graue Wolken hingen über den Dächern, manchmal schneite es ein bisschen. Die Menschen, die zur Arbeit hetzten, zogen die Schultern ein und duckten sich fröstelnd in die Winterkälte. Es war ein Tag, an dem jeder am liebsten zuhause geblieben wäre. In der warmen Küche sitzen, Kaffee trinken, die Morgenzeitung lesen.
Doch Hendrik von Lehsten war froh, als seine Haushälterin Uschi die schwere Relieftür seiner Jugendstilvilla hinter ihm zudrückte und er in seinen bereits vorgewärmten Dienstwagen steigen konnte. „Einen wunderschönen Tag wünsche ich Ihnen“, hatte sie ihn wie jeden Morgen verabschiedet und ihm ihr breites, freundliches Lächeln geschenkt. Der arme Mann, dachte sie, wie an jedem Morgen, so reich, so erfolgreich und so unglücklich. Genau so unglücklich wie die bildschöne Frau, mit der er seit siebzehn Jahren verheiratet war. Sie können nicht mit-, aber auch nicht ohne einander. Uschi seufzte und war wieder einmal überzeugt, dass die Ehe und das Glück selten auf Dauer zusammen passten.
„Ihnen auch einen wunderschönen Tag, Uschi“, lächelte er über seine Schulter, ohne sich noch einmal umzudrehen, obwohl er wusste, dass sie ihm nachsah, bis seine schwere Wagentür endgültig zuklappte. Erst dann würde sie wieder ins Haus zurückkehren und ihren Pflichten nachgehen. Sie war die gute Seele seines Haushaltes, unentbehrlich, ein Hochzeitsgeschenk seiner Mutter Louise von Lehsten. „Deine Frau ist in Haushaltsdingen unfähig, mein Sohn“, hatte sie gesagt und Uschi, damals noch jung, schmal und dunkelhaarig, hatte ihn schüchtern angelächelt. Jetzt war sie 51 Jahre alt und die Spuren von fast zwei Jahrzehnten, die sie größtenteils in der Küche verbracht hatte, waren nicht ohne Spuren auf ihren Hüften geblieben. Ihn störte es nicht, im Gegenteil, sie schon. „Ich müsste dringend abnehmen“, sagte sie oft, aber dann zog sie wieder einen duftenden Apfelkuchen aus der Backröhre oder rührte einen Becher Crème fraîche in die Bratensauce, tauchte ihren Probierlöffel in die Köstlichkeiten und lachte: „Das Leben ist zu kurz für Diäten. Guten Appetit.“
Hendrik ließ den Motor an und als das satte Summen ertönte, zuverlässig wie eine Schweizer Uhr, schaute er kurz zu dem Schlafzimmerfenster seiner Frau hoch. Seit jenem schrecklichen Tag, der ihr Leben für immer verändert hatte, schliefen sie auf ihren Wunsch hin getrennt und obwohl er ihre Wärme in den ersten Wochen schmerzlich vermisste, hatte er sich daran gewöhnt, allein zu schlafen. Schließlich tat er sowieso das meiste allein, denn sie gestattete ihre Nähe nur noch zu ganz besonderen Gelegenheiten. Und natürlich in der Öffentlichkeit, in der sie weiterhin als glamouröses Traumpaar galten. Das war ihr wichtig. Es gehörte zu den vielen Unverständlichkeiten seiner komplizierten Ehe, dass sie es sich trotz allem nicht nehmen ließ, ihn jeden Morgen hinter ihrer fest verschlossenen Schlafzimmertür, sie vertrug keine frische Luft, zu verabschieden. Dann hob sie ihre kühle, blasse, sehr gepflegte Hand und winkte ihm zu, bevor sie wieder ins Morgendunkel ihres Schlafzimmers abtauchte, in dem die Töne Aprikot und Mattgelb vorherrschten, Farben, so hatte sie der Innendesigner aufgeklärt, die stimmungsaufhellend waren. Es war nur ein kurzes Winken, eine kleine, fast verschämte Geste, große Bewegungen passten nicht zu ihrem kühlen Temperament, aber er fühlte sich fast ein wenig getröstet, als er sein Anwesen verließ und in die Seitenstraße einbog, die ihn auf die Hauptstraße und zu seinem Büro führte. Vielleicht hatte sie angefangen, ihm zu verzeihen. Er jedenfalls hatte die Hoffnung nie aufgegeben.
Der Bürgersteig war breit und von nassem Laub bedeckt, der Oktober ging zur Neige und als er gestern nach Hause kam, war er an einer Gruppe von Kindern mit bunten Laternen vorbeigefahren. Eine junge Frau ging hinter ihnen und rief ihnen etwas zu. Er hatte trotz der kühlen Temperatur seine Scheibe herunter gelassen, weil er sie singen hören wollte. „Laterne, Laterne, Sonne, Mond und Sterne, brenne aus mein Licht ...“ Die Kinderstimmen klangen wild durcheinander, hoch und tief, laut und leise und auf einmal fühlte er sein Herz wie einen tiefen, kalten Schmerz. Wann würde er je darüber hinwegkommen?
Manchmal fühlte er
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