Die Frau, die nicht lieben wollte und andere wahre Geschichten über das Unbewusste (German Edition)
Angelegenheiten zu kümmern, doch als er starb, geschah dies keineswegs überraschend. Er hatte gewusst, dass er an Lungenkrebs litt, und seine Praxis in den Monaten vor seinem Tod selbst abgewickelt. Einige Wochen vor dem Ende sagte er mir: »Für meine Patienten ist gesorgt, es sollte sich keiner bei dir melden.« Als Michael D. fast zwei Jahre später anrief, war ich daher ein wenig überrascht.
Wir einigten uns auf einen Termin. Ich wollte gerade auflegen, als er fragte: »Sie erinnern sich doch an mich, oder?«
»Nein, tut mir leid.«
»Nun, es gibt auch keinen Grund, warum Sie sich an mich erinnern sollten.« Er fuhr fort und sagte, wir hätten uns gut zwanzig Jahre zuvor einmal getroffen; damals sei er siebenundzwanzig gewesen. »Sie hatten keinen Platz frei und haben mich an Dr. H. verwiesen.«
Während er sprach, begann ich mich an unsere Begegnung zu erinnern. Wir hatten uns unmittelbar vor seiner Hochzeit getroffen. Zwar konnte ich mich an sein Gesicht nicht mehr erinnern, sah ihn aber in Jeans, T-Shirt und Turnschuhen vor mir und wusste noch, dass er etwas Schüchternes, Jungenhaftes ausgestrahlt hatte. Vor allem aber erinnerte ich mich daran, wie er das Besprechungszimmer betrat, in der Hand ein einziges, liniertes Blatt Papier. Beim Setzen sagte er: »Ich habe mir ein paar Notizen gemacht.« Das Blatt sah aus, als sei es mehrfach gefaltet worden.
Hin und wieder warf er dann einen Blick auf den Zettel, auf dem er seine Fragen an mich notiert hatte: »Soll sie den Verlobungsring behalten?« »Erzähle ich meinen besten Freunden, warum ich an meiner sexuellen Orientierung zweifle?« »Ich muss den Gästen eine Erklärung geben, will aber nicht lügen – was sage ich den Leuten?« »Soll ich sie alle selbst anrufen? Oder können Mum und Dad das für mich erledigen?«
Im Rückblick kann ich nicht mehr sagen, wie ich mit diesen Fragen umgegangen bin. Allerdings habe ich ihm gewiss erzählt, dass ich ihn für sehr besorgt hielt und dass ihm das Notieren dieser Fragen half, sich sicherer, weniger verwirrt zu fühlen. Während der zwei Stunden, die unser Gespräch dauerte, ließ er nicht einen Moment das Papier los.
Allmählich lernte ich das Blatt Papier anders einzuschätzen. Vielleicht lag es daran, wie fest er es hielt, jedenfalls kam es mir immer weniger wie eine trennende Mauer vor, eher schon wie ein abgenutzter Teddy, der überallhin mitgeschleppt wurde. Als er am Ende der Sitzung seinen Mantel anzog, hörte ich mich fragen – wie ein Vater, der sich überzeugen will, dass sein kleiner Junge kein geliebtes Spielzeug liegenlässt –, ob er das Blatt Papier auch nicht vergessen habe.
»Ja, ich erinnere mich jetzt an Sie«, sagte ich und auch, dass ich mich freue, ihn wiederzusehen. Wir verabschiedeten uns und legten auf.
Nachdem ich mir Michaels Patientenbeurteilung geholt hatte, setzte ich mich an den Tisch und begann zu lesen. Die Notizen bestätigten mehr oder weniger meine Erinnerungen.
Zwei Tage vor unserem Gespräch hatte er die Hochzeit abgesagt. Alles geschah sehr überraschend. Am Wochenende zuvor war er mit Claire, seiner Verlobten, zur Hochzeitsfeier eines Freundes gewesen. Auf der Rückfahrt nach London gelangte er zu der Überzeugung, dass er eines Tages, wenn er längst Kinder hatte, aufwachen und feststellen würde, dass er eigentlich schwul war. Während Claire auf dem Beifahrersitz vor sich hindöste, wiederholte er stumm immer wieder: »Ich bin nicht schwul, ich bin nicht schwul, ich bin nicht schwul.« Nach einer schlaflosen Nacht erklärte er Claire dann, er könne sie nicht heiraten, er wisse nicht, wer er sei und was er wolle, vielleicht sei er ja schwul.
Ich fragte ihn, warum er sich für schwul halte, ob er Sex mit einem Mann habe? Nein, erwiderte er. Habe er denn in Gedanken Sex mit einem Mann? Nein. Habe er je Sex mit einem Mann oder sexuelle Phantasien dieser Art gehabt? Wieder nein. Als ich ihn nach seiner Verlobten fragte, erzählte er, dass er seit drei Jahren mit Claire zusammen und vor kurzem mit ihr in eine gemeinsame Wohnung gezogen sei. Ja, sie hatten regelmäßig Sex. »Ertappen Sie sich dabei, an Männer zu denken, während Sie mit Claire Sex haben?«, fragte ich. Nein, antwortete er.
»Tut mir leid«, sagte ich. »Das verstehe ich nicht. Warum halten Sie sich dann für schwul?«
»Also halten Sie mich nicht für schwul?«, fragte er.
»Ich versuche zu verstehen, warum Sie sich dafür halten.«
»Ich fürchte, ich merke erst, dass ich schwul bin,
Weitere Kostenlose Bücher