Die Frau, die nicht lieben wollte und andere wahre Geschichten über das Unbewusste (German Edition)
Französisch nicht beherrschte, sagte er nur, er könne sich gerade nicht an die Namen der Tiere im Übungsheft erinnern. Sie wurde still und wandte den Blick ab – ihr war klargeworden, dass er sie belogen hatte.
Während der gesamten Sitzung verblüffte mich Philips Offenheit, nur wusste ich, wenn er sein wahres Ich bei mir zeigen sollte – wenn er sich ganz in unsere Arbeit einbringen wollte –, dann würde er mich irgendwann auch anlügen müssen. Es sollte nur allzu bald dazu kommen. Einen Monat nach Behandlungsbeginn hörte er auf, die Rechnungen zu bezahlen. Er sagte, er hätte sein Scheckbuch verlegt, würde seine Schulden aber begleichen, sobald er es wiedergefunden hatte. Im nächsten Monat erklärte er, er habe seinen Monatslohn dem Freud-Museum gespendet.
Nach fünf Monaten großspuriger Ausflüchte teilte ich ihm mit, dass wir zum Monatsende aufhören müssten, falls er bis dahin nicht bezahlt hätte. In dem Moment aber, in dem er nach unserer vermeintlich letzten Stunde gehen wollte, fischte er einen Scheck aus der Tasche und gab ihn mir.
Ich war froh, mein Geld zu erhalten, wusste aber eigentlich nicht, was nun zwischen uns vorgefallen war. Philip hatte mir immer unwahrscheinlichere Lügen aufgetischt und ich hatte mich stets weiter von ihm distanziert, meine Worte ihm gegenüber vorsichtiger gewählt. Ich begriff, dass er ein Experte darin war, seinen Zuhörer in jene gesellschaftliche Konvention einzubinden, die verlangt, dass wir auf Lügen mit höflichem Schweigen reagieren. Nur warum? Welchem psychologischen Zweck mochte sein Verhalten dienen?
Während des nächsten Jahres seiner Behandlung rangen wir mit dieser Frage. Wir gingen dem Gedanken nach, ob sein Lügen nicht ein Versuch war, andere zu kontrollieren oder ein Gefühl der Unterlegenheit zu kompensieren. Wir redeten über seine Eltern – seine Mutter war bis zu ihrem Tod kurz vor seinem zwölften Geburtstag Lehrerin gewesen, sein Vater war Chirurg.
Eines Tages schilderte Philip dann eine Erinnerung aus seiner Kindheit, die ihm bis dahin zu belanglos erschienen war, um sie auch nur zu erwähnen. Vom dritten Lebensjahr an teilte er das Schlafzimmer mit seinen Zwillingsbrüdern, die in ihren Kinderbetten schliefen. Manchmal wachte er nachts vom Lärm einiger Leute auf, die aus dem Pub auf der anderen Straßenseite kamen. Und er spürte oft, dass er pinkeln musste und wusste, eigentlich sollte er aufstehen und über den Flur gehen, aber er blieb reglos im Bett liegen.
»Als Kind habe ich oft ins Bett gemacht«, erzählte Philip. Er beschrieb, wie er den nassen Schlafanzug zusammenballte und tief unter der Decke versteckte, nur um ihn zur Schlafenszeit gewaschen und ordentlich gefaltet wieder unterm Kissen vorzufinden. Er hatte mit seiner Mutter nie darüber geredet, und soweit er wusste, hatte sie auch nie irgendwem davon erzählt, selbst seinem Vater nicht. »Der wäre stinkwütend gewesen«, sagte Philip. »Ich nehme an, sie hat einfach geglaubt, ich würde da schon rauswachsen. Und das tat ich ja auch, nach ihrem Tod.«
Philip konnte sich nicht daran erinnern, je mit der Mutter allein gewesen zu sein. Während seiner Kindheit hatte sie vor allem mit den Zwillingen zu tun gehabt. Er besaß selbst keine Erinnerung daran, auch nur ein einziges Mal allein mit ihr geredet zu haben; irgendwer war immer da, einer der Brüder oder sein Vater. Das Bettnässen und ihr Schweigen entwickelten sich so zu einem geheimen Zwiegespräch – etwas, was nur ihnen gehörte. Als die Mutter starb, fand dieses Zwiegespräch ein abruptes Ende. Und so begann Philip, sich andere Versionen einer vergleichbaren Kommunikation auszudenken. Er erzählte Lügen, die eine Schweinerei anrichteten, und hoffte dann, der Zuhörer würde nichts sagen, würde wie seine Mutter werden, ein Partner in einer geheimen Welt.
Philips Lügen waren kein Versuch, sich Vertrauen zu erschwindeln – auch wenn sie manchmal dazu führten. Lügen waren seine Art, Nähe zu bewahren, wie er sie kannte, seine Art, an der Mutter festzuhalten.
Darüber, in keiner Partnerschaft zu leben
Michael D. rief mich an, um einen Termin auszumachen. »Ich war bei Dr. H. in Analyse«, sagte er.
Es gehört zu den Gepflogenheiten meiner Berufsgruppe, dass jedes Mitglied einen Psychoanalytiker benennt, der bei plötzlichem Todesfall seine oder ihre Praxis auflöst – sich um Patienten kümmert und vertrauliche Notizen oder Briefe sorgsam beseitigt. Ich hatte eingewilligt, mich um Dr. H.s
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