Die Frau, die nicht lieben wollte und andere wahre Geschichten über das Unbewusste (German Edition)
Telefonzellen in der Hölle gibt«, schrieb ich, »ist Peter noch am Leben. Er hinterließ heute eine Nachricht auf meinem Anrufbeantworter und bat um einen Gesprächstermin.«
Peter kam in der folgenden Woche. In sachlichem Ton erzählte er, dass er mich über seinen Tod informiert hatte, nicht seine Verlobte. Er hatte auch meinen Kondolenzbrief abgefangen. »Ich fand ihn sehr rührend«, sagte er.
»Ach, wie interessant«, meinte mein Supervisor. »Eigentlich unglaublich, dass so etwas nicht öfter passiert. Wenn man an all die Jugendlichen denkt, die sagen ›Das wird dir noch leidtun, wenn ich mich umgebracht habe‹, sollte man doch annehmen, dass ein Selbstmord viel öfter vorgetäuscht wird.« Wir stimmten darin überein, dass ich Peter nur dann wieder aufnehmen sollte, wenn ich den Eindruck hatte, dass er sich in Zukunft wirklich ernsthaft bemühen wollte.
Nach mehreren Gesprächen einigten wir uns darauf, die Analyse fortzusetzen. Letztlich erwiesen sich Peters Verschwinden und seine Rückkehr sogar als hilfreich, da es etwas klärte, was wir zuvor nicht begriffen hatten: Sein Drang zu schockieren.
In den folgenden Sitzungen schälte sich langsam heraus, dass es Peter gefiel, an den Kummer zu denken, den er verursachte, wenn er plötzlich kündigte oder eine Freundschaft beendete. Zweimal schon hatte er eine Analyse unvermittelt abgebrochen – das erste Mal, indem er einfach aufhörte, das zweite Mal, indem er seinen Selbstmord vortäuschte. In der ersten Phase seiner Analyse hatte ich nicht begriffen, wie wichtig es Peter war, andere Menschen brutal vor den Kopf zu stoßen. Nur warum?
Als Peter zwei Jahre alt war, wurden seine Eltern geschieden; seine Mutter hatte bald darauf wieder geheiratet. Während dieser zweiten Phase seiner Analyse suchte Peter seinen biologischen Vater auf und sprach mit ihm offen über seine Mutter. Er fand heraus, dass seine Mutter eine Affäre mit dem Mann gehabt hatte, der sein Stiefvater werden sollte, und dass beide, Vater wie Mutter, schwere Trinker gewesen waren. Außerdem wurde ihm klar, dass seine ersten beiden Lebensjahre ganz anders verlaufen waren, als man es ihm bislang erzählt hatte. Beide, Vater wie Mutter, gaben zu, dass sie mit ihm als Baby überfordert gewesen und gewalttätig gegen ihn geworden waren.
Peter erzählte mir, dass sich sein Vater an vieles nicht erinnerte, nur daran, dass es eine schreckliche, unglückliche Zeit gewesen sei, eine unglückliche Ehe. »Meine Mutter weinte und erklärte immer wieder, dass es ihr leidtäte«, sagte Peter. »Bei meiner Geburt war sie erst zwanzig und hatte niemanden, der ihr half. Sie sagte, manchmal habe sie geglaubt, einfach verrückt zu werden.«
Peters Verhalten machte deutlich, dass er es sich nicht erlauben konnte, schwach zu sein. Für ihn war Abhängigkeit gefährlich. Seine Geschichte ließe sich folgendermaßen zusammenfassen: »Ich bin der Angreifer, der traumatisiert, nie das Baby, das verletzt wird.« Allerdings fühlte sich Peter auch immer wieder gezwungen, gegen sich selbst vorzugehen. Als er sich in der Kirche angriff, inszenierte er ebendiese Geschichte. »Ich dachte«, erzählte er, »du widerliches kleines Heulbaby. Ich kann dir das antun, und du wirst mich nicht davon abhalten.«
Ich denke, wir versuchen alle, dem Leben durch das Erzählen unserer Geschichte einen Sinn zu verleihen, nur war Peter von einer Geschichte besessen, die er nicht erzählen konnte. Da ihm die Worte fehlten, drückte er sich auf andere Weise aus. Erst mit der Zeit begriff ich, dass Peters Verhalten die Sprache war, die er benutzte, um mit mir zu reden. Peter erzählte seine Geschichte, indem er mich fühlen ließ, was es hieß, er selbst zu sein, indem er mir die Wut, die Verwirrung und den Schock vermittelte, die er als Kind gespürt haben musste.
Die Autorin Karen Blixen schrieb einmal: »Alles Leid lässt sich ertragen, wenn man es in eine Geschichte verpackt oder eine Geschichte darüber erzählt.« Was aber, wenn ein Mensch keine Geschichte über sein Leid erzählen kann? Was, wenn die Geschichte ihn erzählt?
Die Erfahrung hat mich gelehrt, dass unsere Kindheit derartige Geschichten in uns hinterlässt – Geschichten, denen wir keine Stimme verleihen konnten, weil uns niemand half, die nötigen Worte dafür zu finden. Wenn wir aber keine Möglichkeit haben, unsere Geschichte zu erzählen, erzählt die Geschichte uns – wir träumen diese Geschichten, wir entwickeln Symptome, oder wir merken, dass wir uns
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