Die Residenz des Doktor Rattazzi: Roman (German Edition)
»J ETZT BITTEN S IE mich, zu erzählen.«
Lange betrachtete der alte Mann die Frau, die vor ihm saß. Ihre Gesichter waren nicht mehr als zwei Meter voneinander entfernt, ein kleiner Zwischenraum aus leerer Luft, wie es schien. Hätte jemand von außen in dieses Zimmer gespäht, er hätte tatsächlich nur eine Frau und einen alten Mann gesehen, die auf zwei bequemen Sesseln einander gegenübersaßen.
Die Frau lächelte, um das Schweigen zu brechen, das peinlich zu werden begann.
Der Alte fixierte einen Punkt an der Wand. Seine auf den Armlehnen des Sessels ruhenden Unterarme zitterten leicht.
Mit dem Verklingen der letzten Worte, die eben durch das Zimmer gegangen waren, schien zwischen ihnen die Zeit stehengeblieben zu sein. Die einzigen Worte, die seit der Begrüßung gesprochen worden waren. Über dem Echo dieser Stille erhob sich der Alte, schleppte langsam hinkend seine Beine und seine Jahre zum Fenster und stützte sich auf das Fensterbrett. Vor dem Haus belebte ein Wochenmarkt die Piazza. Wie auf einer Theaterbühne schienen die Menschen sich nach festgelegten Abläufen zu bewegen. Sie begegneten einander, blieben stehen, wechselten ein paar Worte oder betasteten die Ware, und ein insektengleiches Summen ging von ihnen aus.
Aus den Bäumen, die diesen alten freien Platz zwischen den Häusern umgaben, flog plötzlich, als würde er einem Befehl gehorchen, ein Starenschwarm auf, der sich sehr schnell bewegte und wie ein einziger Körper fortwährend die Richtung wechselte.
Die Blicke des Alten folgten diesen akrobatischen Figuren, sie folgten ihnen so, wie man die Reihe der Wörter auf einer Buchseite verfolgt. Dieser bewegliche Klumpen dunkler Punkte öffnete für ihn ein Buch, in das er vor vielen Jahren etwas geschrieben hatte, was er nicht vergessen konnte und jetzt einer unbekannten Journalistin erzählen sollte.
Im Geist des Alten verließ die schwarze Wolke der Stare die Piazza, durchquerte die Zeit und vollführte ihre Voluten nun im Hof der Irrenanstalt, über und in Foscos Kopf. Immer wenn dieses hektische schwarze Gebilde am Himmel der Verrückten erschienen war, hatte die Raserei der Vögel auf Fosco übergegriffen, als gehörte er selbst zu dem dunklen Schwarm. Dann schoss er los wie die Vögel und rannte über den Hof, ausgebreitete Arme waren seine Flügel, ausgebreitete Arme schwirrten in der Luft, ein verwirrtes, seliges Fliegen. Beniamino beobachtete ihn, er folgte diesen Bewegungen wie ein kleiner Junge, der mit offenem Mund den Übungen eines Zirkusakrobaten zuschaut, verwundert über die Schnelligkeit, mit der Fosco die Richtung wechselte, über die Kraft, die der Junge entfaltete, wirklich ein freier Vogel im Gefängnis des Irrenhauses.
Wenn Beniamino diesem Flug zusah, vergaß er für eine Weile seine Arbeit und ließ sich von der Energie begeistern, die diese frenetischen Bewegungen im Meer der Verzweiflung des Anstaltshofes erzeugten. Er staunte, wie dieser Junge, in den der Wahnsinn gefahren war, vom Flug eines Vogelschwarms mitgerissen ein paar Minuten lang in der größten Glückseligkeit ertrinken konnte. Dann vollführte der schwarze Fleck seine letzte Spirale, wechselte die Richtung und verschwand wie der Regen eines Sommergewitters: danach war Stille, und nur der keuchende Atem Foscos war zu hören.
Während der ganzen Zeit, die er mit Fosco zusammengewesen war, hatte dieses Ritual sich immer wieder auf die gleiche, vollkommene Weise wiederholt, ein wilder Tanz, der schlagartig abbrach, worauf der Junge in den Himmel starrte und, reglos mitten in seinem Gefängnis stehend, noch einmal Kontakt mit dem verschwindenden Glück suchte.
Nur ein einziges Mal, es war das letzte Mal, dass sie sich sahen, war Fosco nicht wie angewurzelt stehengeblieben, um der Spur des Vogelflugs am Himmel zu folgen, sondern hatte sich zu Beniamino umgedreht, ihn lächelnd angesehen und ihm, bevor er für immer in Richtung Wald verschwand, wie eine Litanei ein einziges, unendlich oft wiederholtes Wort zugerufen.
D AS I RRENHAUS HATTE hohe, vergitterte Fenster. Es war ein Gebäude aus dunklen Ziegelsteinen, vor dem die Stadt sich mit einer Mauer schützte, die ihren anständigen Bürgern den abstoßenden Anblick von Gespenstern aus Fleisch und Blut, von Zwangsjacken und verzerrten Gesichtern mit verschrobenen Gedanken ersparte.
Nur auf einer Seite des Innenhofes, an der Stelle, wo er an ein kleines, zweistöckiges Haus grenzte, gab es eine Lücke in der Mauer, wie durch ein Versehen oder eine
Weitere Kostenlose Bücher