Die Frau, die nicht lieben wollte und andere wahre Geschichten über das Unbewusste (German Edition)
mit einem Baby. Sie wusste, es war nicht ihr Baby – wie denn auch? Doch war niemand sonst da, der sich darum kümmerte, und das Baby war hungrig, also legte sie es an die Brust und merkte, dass sie Milch hatte. Der Kleine war besänftigt und schlief ein. In dem Moment begriff sie, dass das Baby ihr Vater war. Sie wusste nicht, woher sie das wusste, aber er war es, ganz eindeutig. Das verstörte sie nicht, es war schlicht eine Tatsache.
»Ich habe keine Ahnung, worum es dabei geht«, sagte Lucy. »Das mit dem Baby ist so seltsam.«
»Inwiefern seltsam?«, fragte ich.
»So habe ich noch nie von einem Baby geträumt. Dieser Traum fühlte sich – anders an.«
Der Leichenbestatter kam um halb elf, und Lucy musste noch zurück in ihre Wohnung, um sich umzuziehen. »Vielleicht können wir nächste Woche weiter über den Traum reden«, sagte sie.
Doch in der nächsten Woche redeten wir nicht mehr über den Traum. Lucy wurde von den Ereignissen überrollt – da war die Beerdigung ihres Vaters zu organisieren, jemand zu finden, der einen Nachruf schrieb, und sie musste mit dem Verhalten ihrer Mutter nach der Bestattung fertigwerden. In der darauffolgenden Woche ging es dann ums Testament ihres Vaters. Lucy nutzte ihre Stunden, um diese Probleme in den Griff zu bekommen und um über das Leben ihres Vaters nachzudenken, über die Monate, die seinem Tod vorausgingen – gab es irgendetwas, das sie noch hätte tun können? – und um sich die kommenden Jahre ohne ihn vorzustellen.
Meine ersten Überlegungen zu ihrem Traum hatten mit den Gründen zu tun, die Lucy zu mir geführt hatten. Zwei Jahre zuvor war sie an mich überwiesen worden – mit damals siebenundzwanzig Jahren –, weil sie unter einem heftigen Wiederausbruch ihrer jugendlichen Anorexie litt. Mit sechzehn war sie ins Krankenhaus eingeliefert worden und an der Magersucht fast gestorben. Bei unserer ersten Begegnung glich sie einem verwahrlosten Kind, ausgemergelt, fahl und schlaff. Sie litt an Untergewicht, und ihre Periode hatte gänzlich ausgesetzt. Das Haar war stumpf, die Haut leichenblass. Sie hatte einen Freund und eine Katze, aber ihr Interesse schien allein ihrem Postgraduierten-Forschungsprojekt zu gelten. Allerdings kämpfte sie auch auf diesem Gebiet mit Selbstzweifeln. »Ich hätte mich mit dem Diplom zufriedengeben sollen. Dann würde ich heute für jemand anderen arbeiten, würde Experimente durchführen und mir keine Gedanken über eigene Forschungsideen machen müssen. Ich bin zu originären Ideen einfach nicht fähig.«
Das Bild, das sie von ihrem Körperinnern hatte, war ähnlich trostlos. Meist fühlte sie sich unfähig, sich selbst zu ernähren oder ausreichend für sich zu sorgen. Der Gedanke an ein Baby ergab da überhaupt keinen Sinn.
Doch während sie sich in den letzten drei Monaten seines Lebens um ihren Vater gekümmert hatte, schien es gesundheitlich mit ihr bergauf zu gehen, vielleicht, weil sie für ihn kochte und ihn fütterte. Sich um seinen Körper kümmern zu müssen, stärkte das Gespür für den eigenen Körper. Trotzdem fand ich ihren Traum, in dem sie ein Kind in den Schlaf wiegte, ein wenig beängstigend. Lucy hatte viele Jahre lang gegen ihre Eltern gekämpft. Während unserer Sitzungen fiel sie nicht über sich, sondern über sie her. Manchmal machte Lucy den Eindruck, als müsste sie ihre Eltern töten, um sie selbst sein zu können. Meine erste Vermutung war daher, dass ihr Traum dem unbewussten Gefühl entsprang, in ihr stecke etwas Tödliches, das ihrem Vater – könnte sie es ihm nur irgendwie einflößen – helfen würde zu sterben. Wie sich herausstellen sollte, war ich völlig auf dem Holzweg.
Vier Monate, nachdem Lucy mir diesen Traum erzählt hatte, spazierte sie in meine Praxis und sagte, sie sei schwanger. Sie setzte sich auf die Couch und erzählte, wie sie den Teststreifen gekauft, daraufgepinkelt und ungläubig zugesehen hatte, wie er sich blau färbte. Sie war überglücklich.
Sie und ihr Freund verhüteten nicht, da Lucy überzeugt war, angesichts ihrer unregelmäßigen Periode nicht schwanger werden zu können. Wie konnte das nur passieren, fragte sie lachend. »Natürlich weiß ich, dass das Spermium sich mit der Eizelle vereint, nur frage ich mich, wieso gerade ich schwanger geworden bin. Vielleicht war es der Traum«, sagte sie.
»Welcher Traum?«, fragte ich.
» Der Traum. Der Traum, den ich in der Nacht hatte, in der mein Vater starb.«
Wir redeten wieder über die letzten
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