Die Frau, die nicht lieben wollte und andere wahre Geschichten über das Unbewusste (German Edition)
Geburtstagsgeschenk wurde mir zunehmend unbehaglich zumute. Ich hatte schon oft mit meinen Patienten darüber geredet, dass man mit einem Geschenk Macht ausübt, dass es sogar grausam sein kann – galt das auch für diesen Fall? Ich hatte meinen Vater zu einer Reise eingeladen, aber was wollte ich eigentlich von ihm?
Die Reise hatte mir auch bewusst gemacht, dass der Holocaust meinen Vater um jede Chance gebracht hatte, an seine Kindheit denken zu können. Er wurde von daheim fortgeschickt, erst auf den Hof der Großeltern, dann zur Schule. Und deutlich wie nie zuvor machte mir dies klar, wie vernachlässigt er sich gefühlt haben musste, wie sehr der Holocaust die eigene frühe Not ausgelöscht hatte. Da er der Vernichtung entkommen war, konnte er über die Zeit seines Heranwachsens nur sagen: »Ich habe Glück gehabt«.
Etwa ein Jahr nach unserer Reise stieß ich in einer Zeitung auf einen Artikel über Pferdetrekking in Schottland. Ich schnitt ihn aus und schickte ihn meiner Schwester mit dem Hinweis, dass sie der Bericht interessieren könnte. Als Mädchen war sie gern geritten. Mein Vater hatte sie jedes Wochenende zu einem nahen Gehöft mitgenommen. Irgendwo gibt es auch noch ein von meiner Mutter aufgenommenes Foto: meine Schwester, zwölf Jahre alt, sieht lächelnd zu, wie mein Vater ein Pferd aufzäumt. Ich weiß noch, dass ich meinen Vater mal gefragt habe, woher er so viel über Pferde weiß. Er fing an mir zu erzählen, dass er als Junge auf dem Hof meines Großvaters viel Zeit mit Pferden verbracht hatte. Als ich ihn dann fragte, ob ihm je ein eigenes Pferd gehörte, wechselte er abrupt das Thema und wandte sich von mir ab – ganz so, wie er sich an jenem ersten Abend bei unserem Aufenthalt in Mukatschewe von mir abgewandt hatte.
Natürlich ließen mich diese Erinnerungen daran denken, auf welche Weise ich meine Tage verbrachte: allein mit einem anderen Menschen, nachdenkend sowie stets bemüht, anwesend zu sein. Und meist sind meine Patienten willens, solange mit mir zusammenzuarbeiten, wie es nun einmal nötig ist.
Wie Alex kehre ich mit meinen Patienten manchmal an die Orte ihrer Kindheit zurück und orientiere mich dabei an den noch übrig gebliebenen Meilensteinen. Auch ich helfe ihnen, eine unsichtbare, aber spürbare Welt zu vermessen. Und manchmal komme ich mir dabei wie ein Reiseführer vor – halb Detektiv, halb Übersetzer. Alex hatte übrigens recht – alle gehen anders damit um.
Doch dies war noch nicht die ganze Geschichte. Acht Monate nach unserer Reise wurde meine Tochter Clara geboren. Als sie fünf Jahre alt war, hörte sie eines Tages, wie ich telefonierte. Mein Vater hatte angerufen, um mir mitzuteilen, dass eine Kusine gestorben war, eine Frau, die ich mein Leben lang gekannt hatte.
Toby, die Kusine, wurde als Teresa Grosz geboren. Ihr Großvater und der Großvater meines Vaters waren Brüder gewesen. Aufgewachsen war sie auf einem Gehöft in Nehrowo. Als mein Vater 1940 nach Amerika auswanderte, blieb Toby mit ihrer Familie zurück. Im April 1944 wurden alle, die auf dem Hof lebten, von den Nazis erst in eine Ziegelei in Mukatschewe verschleppt, wo man sie tagelang ohne Wasser und Lebensmittel gefangen hielt, um sie dann in Viehwaggons nach Auschwitz zu transportieren. Bei der Ankunft hat man Toby, ihrer Schwester Helen und Eugene, dem damaligen Zimmerkameraden meines Vaters – allesamt noch Teenager – die Köpfe geschoren; auf ihren Armen wurde eine Nummer eintätowiert. Dann zwang man sie zur Arbeit. Die übrige Familie meines Vaters sowie nahezu alle Menschen, die er außerdem noch kannte, wurden in die Gaskammern geschickt.
Am Telefon unterhielt ich mich mit meinem Vater über Tobys Leben. Er hatte mit ihr noch auf dem elterlichen Hof gespielt und sie als lebenslustiges Mädchen in Erinnerung. »Nur an das Leben in Amerika hat sie sich nicht recht gewöhnt«, sagte er. »Über sechzig Jahre hat sie hier gewohnt, aber sie war hier nie zu Hause.«
Als ich auflegte, sah ich meine Tochter im Türrahmen stehen. Sie fragte nach etwas, was sie gehört hatte. Und als ich auf ihre Fragen antwortete – Fragen nach Auschwitz und den Nazis – merkte ich, wie schwer es mir fiel, die richtigen Worte zu finden. Ich spürte in mir – und erkannte ihn rückblickend nun auch in meinem Vater – den Impuls, meinen Kindern ein solches Grauen ersparen zu wollen.
Den Tod ertragen
Meine Patientin Lucy N., eine junge Wissenschaftlerin, warf Mantel und Schal auf die Couch
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