Die Frau, die nicht lieben wollte und andere wahre Geschichten über das Unbewusste (German Edition)
und nahm mir gegenüber Platz. »Ich will mich heute nicht hinlegen; mir ist nicht nach Therapie.«
Sie sah mich direkt an. »Keine Sorge«, fuhr sie fort. »Ich habe nicht angefangen zu hungern. Gestern habe ich zu Abend gegessen und heute Morgen ein bisschen gefrühstückt. Ich will Ihnen nur erzählen, was passiert ist.«
Die Sitzung fand freitags um neun Uhr früh statt. Am Abend zuvor war Lucy gegen Mitternacht im Wohnzimmer ihrer Eltern auf dem Sofa eingeschlafen. Die Mutter döste auf einem zweiten Sofa. Eine Krankenschwester hielt sich beim Vater im elterlichen Schlafzimmer auf. Einige Stunden später, so gegen halb fünf, spürte sie, wie ihre Mutter sich über sie beugte. Sie legte eine Hand auf Lucys Kopfkissen und flüsterte: »Wir müssen jetzt ins Schlafzimmer gehen.«
Im Schlafzimmer hatte die Schwester alle Lichter angemacht. Ihre Mutter nahm sich einen Stuhl. Lucy ging um das Bett herum und setzte sich zu ihrem Vater. Er hatte den Kopf in den Nacken gelegt, der Mund stand weit offen, der Atem ging flach. Lucy strich ihm über Stirn und Wange; dann nahm sie seine Hand.
Als ihr Vater ein merkwürdiges Geräusch ausstieß, gab ihre Mutter einen Laut von sich. »Es klang wie ›iiih‹«, sagte Lucy. »Vielleicht war sie überrascht und nicht angewidert, aber es ärgerte mich. Selbst die Art, wie sie seine Hand hielt, ärgerte mich. Sie hielt sie nicht, sie tätschelte sie leicht mit den Fingerspitzen und sagte: ›Nun, nun – nun, nun, nun.‹ Ich wollte ihr sagen, sie solle damit aufhören, tat es aber nicht. Ich versuchte, mich nur auf meinen Vater zu konzentrieren.
Dann sagte die Schwester: ›Es geht zu Ende.‹ Also legte ich mich zu ihm aufs Bett, den Kopf aufs Kissen neben seinem Kopf, legte eine Hand auf seine Brust und schmiegte die Stirn an sein Gesicht. Sein Bart war rau und erinnerte mich an die Zeit, in der ich klein gewesen war und er mich morgens immer geküsst hatte. Daran dachte ich, als ich die Hand meiner Mutter auf der Schulter spürte. Sie schüttelte mich und sagte, ich solle aufstehen. Ich wollte nicht, tat es aber – sofort. Ich wollte sie nicht vor der Schwester in Verlegenheit bringen.
Als ich mich aufrichtete, öffnete er für einen kurzen Moment die Augen. Er schaute direkt zur Decke hoch. Ich glaube nicht, dass er noch irgendwas gesehen hat. Dann schloss er die Augen und war tot.«
Die Krankenschwester verließ das Zimmer, die Mutter folgte ihr. Einige Sekunden später steckte die Mutter den Kopf durch die Tür und sagte Lucy, sie brauche sie. »Sie wollte mit mir darüber reden, was als Nächstes zu tun war. Ich sagte, ich wolle nur noch einige Augenblicke mit Dad allein sein.«
Die Sonne ging auf. Lucy öffnete die Vorhänge und machte das Licht aus. Sie wollte, dass das Zimmer so war, wie ihr Vater es immer gemocht hatte. Sie setzte sich aufs Bett. »Und dann habe ich mit ihm geredet«, sagte sie.
Sie sagte, wie froh sie sei, dass er keine Schmerzen mehr leide und seinen Frieden gefunden habe. »Ich sagte ihm, dass ich ihn liebe und dass mir jeder Kummer leidtäte, den ich ihm bereitet hatte. Ich sagte, dass er immer bei mir sein würde. Und dann gab ich ihm einen Kuss.«
Es waren erst wenige Minuten vergangen, fuhr sie fort, aber seine Lippen waren schon kalt. Stumm blieb sie bei ihm sitzen.
Nach einer Weile ging sie in die Küche, machte sich eine Kanne Tee und rief ihren Bruder und ihre Onkel an. Und sobald sie diese Anrufe erledigt hatte, ging sie nach draußen – damit ihre Mutter sie nicht hören konnte – und rief mich an, um mir zu sagen, dass ihr Vater gestorben sei, und mich dann zu fragen, ob sie noch am selben Vormittag eine Extrastunde haben könne. Anschließend setzte sie sich wieder in die Küche. Sie war müde, mochte aber nicht schlafen.
Während der letzten Tage, in denen ihr Vater im Sterben lag, hatte ihre Mutter sie immer wieder fast zu einem Wutausbruch gebracht; sie konnte spüren, wie ihr Ärger wuchs. »Ich fürchte, irgendwann werde ich sie richtig anschnauzen. Sie hat sich beschissen um mich gekümmert, und sie hat sich beschissen um meinen Dad gekümmert, aber es dürfte wohl nicht viel bringen, ihr das gerade jetzt zu sagen.«
Lucy blickte auf die Uhr. »Ich weiß, wir müssen aufhören, aber darf ich noch eines erzählen?«
»Natürlich«, antwortete ich. »Worum geht’s?«
»Ich hatte einen Traum. Ich fürchte, ich vergesse ihn sonst und denke, ich hatte ihn, als meine Mum mich aufweckte.«
Im Traum saß Lucy im Zug
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