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Die Frau, die nicht lieben wollte und andere wahre Geschichten über das Unbewusste (German Edition)

Die Frau, die nicht lieben wollte und andere wahre Geschichten über das Unbewusste (German Edition)

Titel: Die Frau, die nicht lieben wollte und andere wahre Geschichten über das Unbewusste (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen Grosz
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für Tag bei ihm saß, wurde sein Schweigen immer tiefer. Und wie er eines Tages so still dalag, der Atem langsam und stetig, schlief er ein. Beim ersten Mal war ihm das ein wenig peinlich. »Ich fürchte, ich bin sehr müde«, sagte er. »Wie lange habe ich geschlafen?« Schon bald aber schlief er regelmäßig während der meisten Sitzungen zehn, fünfzehn Minuten, und ein-, zweimal die Woche verschlief er auch eine ganze Stunde. Er sagte, es käme ihm nicht wie Schlaf vor – ehe, als würde er bewusstlos, als hätte man ihn betäubt. Er wusste nie, wie lange er geschlafen hatte.
    Mein erster Gedanke war, dass er in den Sitzungen schlief, weil er sich daheim fürchtete, die Nacht durchzuschlafen. Bei mir fühlte er sich geborgen; ich würde über ihn wachen, solange er schlief.
    Gelegentlich träumte er auf der Couch. Einmal, etwa neun Monate nach Beginn der Analyse, lag Anthony auf der Seite, blickte durchs Zimmer auf meine Bücherwand, schloss die Augen und schlief ein.
    Als er zwanzig Minuten später aufwachte, erzählte er, er habe geträumt, in einem medizinischen Fachbuch zu lesen. Im Buch entdeckte er ein Querschnittfoto, das einen Fötus in seiner Mutter zeigte. Und obwohl das Bild in einem Buch war, bewegte es sich. Anthony sah, wie durch die Nabelschnur Blut von der Mutter zum Kind gepumpt wurde. Der Bildtext dazu lautete: »Dieses Baby wird vom Mutterblut infiziert; die Mutter ist HIV-positiv.« Dann kam ein Wind auf und schlug die Buchseiten um, »wie in einem Film, wenn ein Windstoß die Kalenderseiten aufblättert«. Gleich darauf erwachte er.
    Ausgehend von dem, was ich über Anthony wusste, und von dem, was ich unter Übertragung verstand – dass wir uns nämlich alle gegenseitig nach frühen Blaupausen erschaffen –, hielt ich seinen Traum für einen Ausdruck des Wunsches, mir nahe sein und mich zugleich auf Distanz halten zu wollen. Er sehnte sich danach, sich bei mir aufgehoben und geborgen zu fühlen, argwöhnte aber, ich könnte ihn vergiften. Wir arbeiteten heraus, dass er fürchtete, meine Worte könnten ihm schaden, könnten ihn krank machen wie den Fötus, der von der Mutter infiziert wurde. Er sagte: »Ich habe Angst, dass ich krank werde, wenn wir nur darüber reden oder auch bloß daran denken.«
    Ich meinte zu verstehen, was während der Analyse geschah, und schrieb darüber eine Vorlesung, doch kurz nach ihrer Veröffentlichung im International Journal of Psychoanalysis begann ich, am Geschriebenen zu zweifeln. Anthony schlief während der Sitzungen immer noch ein, und soweit ich sehen konnte, zeigten meine Deutungen kaum Wirkung. Ich spürte, wie ich mich immer mehr in seiner Stille zu verlieren begann.
    Nach abertausend mit Patienten verbrachten Stunden ist meine innere Uhr präzise auf fünfzig Minuten eingestellt, bei Anthony aber funktionierte diese Uhr nicht mehr. Mit ihm konnte mir eine ganze Sitzung wie wenige Minuten vorkommen oder sich ewig lang hinziehen. Einmal wollte ich Anthony bereits sagen, dass wir aufhören mussten, als ich auf die Uhr schaute und feststellte, dass erst wenige Minuten vergangen waren. Damals kam mir ein Gedanke, den ich ihm aber nicht mitteilte; ich vermutete, dass er versuchte, die Zeit anzuhalten, um so auf immer in der Gegenwart leben zu können, in der er nicht krank war und nicht starb.
    Drei Jahre nach Beginn der Analyse brach Anthonys Immunsystem zusammen. Die Zahl seiner CD4-Zellen war schon seit einiger Zeit nicht mehr im normalen Bereich gewesen (500 bis 1500 Zellen pro Kubikmilliliter Blut), fiel nun aber rapide von 175 auf 43. Ist jemand mit HIV infiziert und die Zahl seiner CD4-Zellen fällt unter 200, beginnt man, ihn gegen AIDS zu behandeln. Und obwohl Anthony gesund aussah und sich nicht krank fühlte, wurde es nun immer wahrscheinlicher, dass er sich bald eine Lungenentzündung oder eine andere potentiell tödliche Infektion zuziehen würde.
    Einige Tage, nachdem ich erfahren hatte, dass Anthonys CD4 s auf ein kritisches Niveau gesunken waren, erhielt ich eine Einladung zu einem klinischen Seminar im Ausland und beschloss, dort Anthonys Fall vorzustellen. Mir war dies wichtig, weil ich den Eindruck hatte, dass wir ungewöhnliche Arbeit machten, HIV-positive Patienten aber oft nur eine psychologische Betreuung erhielten, die sich auf Beratung und Beschwichtigung konzentrierte – Anthony nannte das »mit Zuckerguss überziehen«. Er sagte, Realismus, wie schmerzhaft er auch sei, fände er allemal beruhigender als jegliche Form

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