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Die Frau, die nicht lieben wollte und andere wahre Geschichten über das Unbewusste (German Edition)

Die Frau, die nicht lieben wollte und andere wahre Geschichten über das Unbewusste (German Edition)

Titel: Die Frau, die nicht lieben wollte und andere wahre Geschichten über das Unbewusste (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen Grosz
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besser nicht. Ich möchte lieber wieder zurück«, sagte er.
    »Wir sind so einen weiten Weg gekommen, Dad, da brauchen wir doch nicht gleich wieder ins Auto zu steigen«.
    »Nein, nein – ist schon in Ordnung. Fahren wir.«
    Und wir fuhren die zwölf Kilometer nach Nehrowo – kaum ein Dorf, eher eine Ansammlung von drei, vier Gehöften –, um uns das Gut anzusehen, das einmal meinem Urgroßvater gehört hatte. Vor vielen Jahren hatte mir meine Mutter erzählt, dass mein Vater im Alter von drei Jahren zu den Großeltern gebracht worden war, damit seine Mutter sich besser um die jüngeren Geschwister kümmern konnte. Er musste sich das Schlafzimmer mit dem strengen, gottesfürchtigen Opa teilen und hatte im Verlauf seiner Kindheit immer mal wieder bei den Großeltern gewohnt. Alex sprach mit der Frau, die heute dort lebte, und sie hatte nichts dagegen, dass wir uns ein wenig umschauten. Mein Vater führte uns durch das alte Haus, die Hofgebäude und Ställe. Als wir von einem Hügel herab auf den Hof blickten, erzählte er uns dann, dass früher einmal eine Mühle auf dem Anwesen gestanden hatte. »Ja, die gibt es noch«, sagte Alex, »die steht ein Stück die Straße runter.«
    »Nein, nein, die Mühle war viel größer«, sagte mein Vater. »Das kann sie nicht sein.«
    Wir liefen alle zu dem Gebäude und schauten durch ein staubiges Fenster auf den runden Mühlenstein. Bis auf meinen Vater war für alle offensichtlich, dass dies hier die richtige Mühle sein musste und dass sich in hundert Jahren nur wenig verändert hatte. »Vielleicht liegt es bloß daran, Dad, dass Dinge, die uns als Kinder groß vorkommen, für uns Erwachsene kleiner aussehen – ich bin mir sicher, dass dies dieselbe Mühle ist.«
    »Es ist schon spät«, sagte mein Vater. »Ich finde, wir sollten zurückfahren.«
    Also stiegen wir alle wieder ins Auto. Auf der Rückfahrt sprach niemand ein Wort, nur Alex fragte, ob es in Ordnung sei, wenn er das Radio anstellte.
    Am nächsten Morgen sollten wir uns auf den Weg zu einem Bergdorf in den Karpaten machen, in das mein Vater jedes Jahr mit der Familie gefahren war, doch begann ich mich zu fragen, ob sich der Aufwand wirklich lohnte. Wir hakten alle Orte auf unserer Route ab, aber zu den Gesprächen, die ich mir mit meinem Vater erhofft hatte, kam es nicht.
    Bei einem Bier entschuldigte ich mich abends bei Alex dafür, dass mein Vater offenbar nicht zu schätzen wusste, welche Mühe er sich mit uns machte. Alex hörte zu, nickte und erzählte mir dann von einem anderen Kunden, einer Frau aus Buenos Aires. Ihr Dorf hatte aus knapp einem Dutzend Häusern an der polnisch-russischen Grenze bestanden. »Erst wurde es von den Nazis zerstört«, berichtete Alex. »Und über das, was übrig blieb, sind dann die Sowjets hergefallen. Selbst die Pflastersteine der alten Straßen waren verschwunden.«
    Die Frau hatte Kontakt mit Alex aufgenommen, und gemeinsam waren sie in ihre alte Heimat gefahren. »Vom ganzen Dorf war nur noch die große Eiche auf dem Dorfplatz geblieben«, sagte er. »Im nächsten Jahr kam die Frau mit ihrer Schwester wieder, im darauffolgenden Jahr mit einer Freundin, dann mit den Kindern und schließlich mit den Enkeln. Jedes Jahr lief Alex mit ihr einen halben Kilometer über einen matschigen Acker bis dahin, wo das Dorf gestanden hatte, und vom Baum ausgehend vermaß sie die Straßen und die Häuser. ›Da hat das Haus meiner Großmutter gestanden‹, sagte sie, ›die Synagoge war dort, mein Haus hier.‹« Alex stellte sein Glas ab. »Es war nichts mehr da, aber sie hat alles gesehen. Mit Ihrem Vater ist es umgekehrt, alles ist da, aber er sieht nichts.«
    Er schaute mich an. »Jeder geht anders damit um«, sagte er.
    Am Flughafen sah mein Vater, wie ich Alex einen Umschlag reichte. »Du hast ihm ein Trinkgeld gegeben?«, fragte er und schüttelte den Kopf. »Du bist ja verrückt! Warum hast du ihm denn noch mehr Geld gegeben?«
    Ich spürte, wie der Ärger der letzten Tage wieder in mir aufstieg. »Er hat alles gefunden, Dad«, erwiderte ich. »Er hätte nicht mehr für uns tun können.«
    Später, als ich wieder in London und in meiner psychoanalytischen Praxis war, kam mir der Gedanke, dass sich im Erinnern und Nicht-Erinnern meines Vaters eine einfache psychologische Wahrheit ausdrückte, nämlich die, dass jene Orte, die wir aufgesucht hatten, ohne die geliebten Menschen nicht mehr die Orte waren, die er einst gekannt hatte. Mehr noch, bei dem Gedanken an mein

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