Die Frau, die vom Himmel fiel: Roman (German Edition)
Ersatzkaffee aus Thermosflaschen. Sie unterhalten sich, aber das Gespräch ist gezeichnet von Nervosität, von der bangen Frage, was passieren wird und was nicht. Gilbert weist sie ein. Im Flugzeug werden die Fallschirme der Ankömmlinge liegen. Er erklärt, wie sie umgeschnallt werden. Sie werden zwei Flughelme vorfinden, die bereits mit der Bordsprechanlage verbunden sind. Sie werden sie aufsetzen müssen, um mit dem Piloten sprechen zu können. Der Ein-Aus-Schalter befindet sich vorn an der Sauerstoffmaske.«
»Sauerstoff?«
»Den werden sie nicht brauchen, aber der Schalter ist nun mal an der Maske. Wahrscheinlich brauchen Sie eher die Kotztüten – die Lizzies fliegen mit einer maximalen Höhe von achttausend Fuß, und da könnte es holprig werden.«
Nachdem sie die Abläufe zwei- oder dreimal durchgekaut haben, kommen die beiden Männer auf den Krieg zu sprechen, was in Russland geschieht, in Italien, in Fernost, wie der Konflikt sich verschärft und wie er weitergehen könnte. Alice klammert sich an Cléments Arm und ignoriert Gilberts neugierigen Blick, antwortet nur einsilbig, wenn sie angesprochen wird. Orion der Jäger zieht einen ganzen Baldachin aus Sternen über den Himmel, und dahinter geht der Mond auf, gießt Milch über die Felder. Sie erinnert sich an das Warten auf den parachutage , wie Langeweile in einen seltsam kontemplativen Zustand überging, in dem sogar die Kälte etwas Äußerliches wurde, etwas, das dir nichts anhaben konnte. Clément küsst sie aufs Ohr, ein erschreckender Klang in der Stille der Nacht. »Bald sind wir in England«, flüstert er, und sie denkt an England, an das öde, eintönige England, und fragt sich, was passieren wird. Sie stellt sich vor, dass er nach dem Krieg eine üble Scheidung hinter sich bringt und sie beide sich dann in einem anderen Land niederlassen, als Mann und Frau. Kanada vielleicht, wo dieser von Halban schon ist und wo sowohl Französisch als auch Englisch gesprochen wird.
Und Benoît? Zwei Männer, die sie beide liebt oder zu lieben glaubt oder vielleicht wirklich liebt. Sie nehmen verschiedene Teile ihres Lebens ein, als wäre sie zwei Menschen, eine durch den Krieg gespaltene Persönlichkeit, deren eine Hälfte die andere nicht kennt. Aber das ist nicht schwierig. Man hat ihr beigebracht, Geheimnisse zu bewahren.
»Irgendwann werden wir uns an das hier erinnern und lachen«, sagt Clément, aber sie kann nichts Lustiges daran erkennen, nicht mal ansatzweise.
Um Mitternacht steht Gilbert auf und streckt sich. »Machen wir uns bereit.« Er öffnet seine Aktentasche und holt vier Taschenlampen hervor, testet sie nacheinander und erteilt Anweisungen wie ein Befehlshaber, der seine Truppen ins Gefecht führt. Sie folgt ihm hinaus ins Mondlicht. Der Boden unter ihren Füßen ist hart gefroren. Um die Bäume am Rand der Wiese schlingen sich leuchtende Schals aus Nebel, und an dem Fluss rechts von ihnen liegt eine Nebelbank. Gilbert ist wegen des Nebels besorgt. Bodennebel kann selbst bei bestem Wetter eine Rückholung verhindern. Eine sternenklare Nacht kann binnen Minuten undurchdringlich werden, bloß weil die Lufttemperatur unter den Taupunkt fällt. »Eben ist es noch völlig klar, und im nächsten Moment bist du absolut nicht mehr zu sehen.«
Aber sie sind zu sehen. Sie sind spukhafte Schatten, die sich leise über die bleiche Wiese bewegen, Gespenster in der Dunkelheit. Sie gehen bis zu den entferntesten Pfählen und binden die Taschenlampen fest, kehren dann zu Clément zurück, der bei den Koffern wartet. Seine Erscheinung hat etwas Absurdes, ein Mann in einem dunklen Mantel, der mitten auf einer einsamen Wiese neben seinem Gepäck steht, wie ein Zugpassagier, der von einem Bahnsteig hierher gezaubert worden ist. Er bräuchte nur noch einen Bowlerhut, un melon , auf dem Kopf, und das Bild wäre komplett.
»Und jetzt warten wir«, sagt Gilbert.
V
Sie warten. Gestalten in einer monochromen Landschaft, umweht von einem leichten Wind, angemalt vom Mond, blicken hinauf zu den Sternen. Die Kälte dringt ihnen in die Knochen. Clément legt einen Arm um Marian und drückt sie eng an sich. Nachtgeräusche erklingen, ein Wispern und Huschen, das ferne Bellen eines Hundes, das Flüstern des Windes, wenn er ihnen an den Ohren vorbeistreift, und unter dem allen ein Murmeln, das der Klang des Flusses in der Nähe sein könnte. Und dann ist plötzlich noch etwas in der Luft, ein Raunen von Zukünftigem. Sie hört es als Erste. Vielleicht sind ihre
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