Die Frau, die vom Himmel fiel: Roman (German Edition)
ergattern, weil jemand sich auf ihr Drängen hin erweichen lässt, einen Sitz weiterzurücken. Es wird ein bisschen gemurrt und gemeckert, aber schließlich sitzen sie, ganz nah beieinander, scheinbar ohne die anderen im Abteil wahrzunehmen. Clément legt einen Arm um sie. Sie spürt seine Wärme, eine Wärme, die, wie sie immer vermutet hat und jetzt genau weiß, tatsächlich etwas Intimes ist, eine Aura, die zu ihr abstrahlt, unmittelbar von Haut zu Haut, eine Flüssigkeit wie die, die sie gefährlich durchströmt. »Schade, dass …«, sagt sie, spricht den Satz aber nicht zu Ende, und als er nachfragt, schüttelt sie nur den Kopf. »Nichts. Ist nicht wichtig.«
Schade, dass wir nicht wirklich einfach nur übers Wochenende wegfahren. Schade, dass diese Reise irgendwann endet. Schade, dass es so etwas wie Entscheidungen gibt.
In Étampes kommen Polizisten an Bord und gehen die Gänge entlang, steigen über Menschen und Koffer, verlangen Papiere und stellen Fragen. Ein Beamter öffnet die Tür des Abteils und will von allen die Ausweise sehen. Gehorsam wird in Handtaschen gekramt, in Jackentaschen gegriffen. Alice holt den Ausweis von Laurence Aimée Follette hervor und reicht ihn hinüber, reckt dann den Kopf und gibt Clément einen Kuss. Unbekümmertheit, Sorglosigkeit, Gleichmut angesichts lästiger Alltäglichkeiten. Der Polizist wirft einen Blick auf ihr Foto, dann in ihr Gesicht und gibt das Dokument zurück. Mit tiefen Seufzern rattert der Zug weiter, hinaus auf das Flachland der Beauce, wo die Felder mit einem grünen Hauch vom sprießenden Winterweizen überzogen sind und der Himmel in einem kühlen Herbstblau leuchtet.
Kurz vor Orléans werden sie langsamer. Ein paar Nächte zuvor hat es einen Bombenangriff gegeben, und der Rangierbahnhof von Fleury-les-Aubrais ist ein Trümmerfeld, Waggons liegen kreuz und quer, Gebäude qualmen noch, hier und da sind Schienen verbogen, als hätte ein schlecht gelauntes Kind sie wild zusammengeknotet. Schweigend starren die Leute durchs Fenster auf diese Anzeichen für das, was noch alles bevorsteht, während die Waggons holpernd und ruckelnd über das einzige Gleis fahren, das wieder repariert worden ist. Im Bahnhof selbst schlagen Türen, Leute steigen ein und aus, schwere Stiefel stapfen über die Gänge, Deutsche diesmal, die sich von Abteil zu Abteil schieben.
»Warum fahren Sie nach Libourne?«, fragt einer von ihnen.
Clément blickt Laurence an und gibt ihr einen Kuss. »Wir gönnen uns ein paar ungestörte Tage.«
Der Deutsche wirft ihr einen prüfenden Blick zu und sieht dann in ihre Papiere. »Sie sind weit weg von zu Hause.« Er spricht gutes Französisch, was etwas Beunruhigendes hat: keine Verständnisschranke, hinter der du dich verstecken könntest.
»Ich hab Clément besucht. Er hat mir gefehlt. Aber in Paris ist ständig seine Familie dabei, Sie wissen schon.« Sie blickt dem Deutschen direkt in die Augen und setzt ein kleines Lächeln auf. »Ist doch normal, dass wir ein bisschen für uns sein wollen, oder nicht?«
»Woher kennen Sie ihn?«
Sie klammert sich an Cléments Arm, albern, bis über beide Ohren verliebt, eine junge Frau, die mit einem älteren Mann gefährliche Dinge tut. »Von früher, in Annecy. Unsere Eltern kannten sich. Wir haben gemeinsame Urlaube verbracht.«
Der Mann überlegt kurz, sagt: »Moment« und verschwindet mit ihren Papieren. Alice rührt sich nicht. Die Zeit verlangsamt sich, wird nur durch das dünne Rinnsal Schweiß aus ihren Achselhöhlen markiert. Sie denkt an Ned. Gravitative Zeitdilatation, das ist der Ausdruck, den er benutzte. Er versuchte, ihr zu erklären, was darunter zu verstehen war, und ärgerte sich bloß, weil sie es damit verglich, dass die Zeit schneller vergeht, wenn du dich gut amüsierst. »Das ist subjektiv!«, rief er empört. »Bloß ein Eindruck. Ich rede hier von einem realen Unterschied, der dadurch entsteht, dass man sich in einem anderen Gravitationsfeld befindet.« Befindet sie sich jetzt in einem anderen Gravitationsfeld? Die Zeit scheint sich so weit verlangsamt zu haben, dass dieser Augenblick, hier in dem voll besetzten Abteil, mit Cléments Hand fest um ihrer, sich zur Ewigkeit ausdehnt.
»Was machen die wohl?«, flüstert sie.
»In Listen schauen, denke ich. Namen abgleichen. Mehr nicht.« Er wirkt erstaunlich gelassen. Vielleicht ist er besser geeignet für das Leben im Verborgenen als sie.
Der Soldat kommt zurück, zieht die Abteiltür krachend auf. »In Ordnung«, sagt er
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